Das Ende eines Schreckensjahres
Warum es gut ist, dass manch lateinischer Ausdruck nur in der Einzahl, nicht in der Mehrzahl existiert
In meiner Lieblingsbäckerei, in der Buchhandlung, im Gespräch mit Freunden, auf der Theaterpremierenparty, beim Automechaniker, bei der gynäkologischen Untersuchung: Egal, wo ich zuletzt war oder mit wem ich sprach, auf die Frage: „Wie geht’s?“, bekam ich die Antwort: „Es wird Zeit, dass dieses Jahr endlich vorbei ist.“
Meiner bescheidenen Wahrnehmung nach erschallte dieser Satz noch nie so oft wie momentan. Warum dieses Jahr für außergewöhnlich viele Menschen ein schreckliches war, muss an dieser Stelle nicht wiederholt werden: Die Druckwerke wimmeln voller Rückblicke auf 2022.
Für Jahre wie dieses, in welchen Katastrophen und Krisen einander die Klinke in die Hand drücken, gibt es einen lateinischen Ausdruck: Annus horribilis, das Schreckensjahr. Fans der britischen Royals beziehungsweise Zuschauer der Netflix-Serie „The Crown“ kennen diesen Begriff vielleicht durch Queen Elizabeth, die das Jahr 1992 als ihr Annus horribilis bezeichnete, weil ein königlicher Skandal den nächsten jagte, ehe ihr geliebtes Schloss Windsor abbrannte.
In der niederländischen Geschichte gilt 1672 als Annus horribilis aufgrund des Französisch-Niederländischen Krieges, der ehemalige UN-Generalsekretär Kofi Annan sah 2004 als ein solches, die Anglikanische Kirche 1870. Aber wissen Sie, was das Beste an einem Annus horribilis ist? Dieser Ausdruck existiert nur in der Einzahl. Das heißt, auf ein Annus horribilis folgt laut Weltgeschichte kein weiteres Annus horribilis.
Viel häufiger liest man von seinem Gegenteil: Dem Annus mirabilis, einem Jahr voller wunderbarer Nachrichten, die Menschheit beglückender Erfindungen und positiver Entwicklungen.
Rutschen Sie gut nach 2023! Möge uns nicht nur ein Annus mirabilis erwarten, sondern mehrere Anni mirabiles – denn anders als sein böses Geschwisterl existiert dieser Ausdruck sehr wohl in der Mehrzahl.
Kommentare