Vea Kaiser

Fabelhafte Welt: Ein radikaler Rückschnitt

Was man gewinnt, wenn man viel Zeit mit Auslichten, Kürzen und Trimmen verbringt

An unserer Grundstücksgrenze herrscht eine Hecke. Ihrem Wuchs nach zu urteilen, wurde sie zuletzt im 20. Jahrhundert ordentlich zurückgeschnitten. Seither hat sie einen Zaun gefressen, den wir nun lackieren müssen. „Am besten ausreißen und neu pflanzen“, sagte der Gärtner, den ich bezüglich eines Rückschnitts kontaktierte. Das bringe ich nicht übers Herz. Diese Hecke steht in der prallen Sonne, wird nie gegossen, trotzt Steinschlag, Krähen und Eichhörnchen.

Ein Hauptproblem unserer Zeit ist die Empfindsamkeit. Alle sind sofort beleidigt, fühlen sich zu wenig beachtet oder wertgeschätzt. Diese Hecke hingegen wuchert unbeeindruckt von Widrigkeiten vor sich hin, weswegen ich seit Wochen mein bisschen Freizeit damit verbringe, sie Trieb für Trieb zu bändigen, um den Zaun freizulegen. Das ist mühsam und fühlt sich an wie die Trennung von siamesischen Zwillingen. Wannimmer ich mich draußen plage, bleiben Passanten stehen. Zunächst klagten die Nachbarinnen: „Ma wie prächtig war die früher! Und jetzt so kahl und schirch!“ Dann kamen Ratschläge von (ausschließlich männlichen) Nachbarn, die selbst noch nie eine Hecke geschnitten hatten. Es wurde sogar versucht, mich aufzuhalten: „Die Mondphase ist die falsche zum Heckenschneiden!“

Mittlerweile bleiben die Vorbeigehenden allerdings stehen, um zu tratschen. Wo eingebrochen wurde, wer verstarb und wer sich scheiden lässt, muss ich nicht unbedingt hören, aber den Alltags-Austausch mit einst Fremden habe ich ins Herz geschlossen. Was kommt morgen auf den Mittagstisch, wer sorgt sich um die Kinder, was beschäftigt Menschen mit anderen Lebensläufen. Dichte Hecken schirmen die Welt auf der anderen Seite ab. Aber beim Zurückschneiden merkte ich mal wieder: so viel gibt’s gar nicht, gegen das man sich abschirmen muss. Solange man nicht zu empfindsam ist, sich darauf einzulassen.

Vea Kaiser

Über Vea Kaiser

Vea Kaiser ist die Autorin der Nr.1-Bestseller „Blasmusikpop“, „Makarionissi“ und „Rückwärtswalzer“. Ihre Bücher wurden vielfach preisgekrönt und in mehrere Sprachen übersetzt. Die studierte Altphilologin lebt mit Familie am Wiener Stadtrand und schreibt für die freizeit die wöchentliche Kolumne „Fabelhafte Welt“.

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