Fabelhafte Welt: Auf Augenhöhe im Turnsaal

Über Erfolg und Anwendbarkeit zeitgenössischer Erziehungskonzepte

Jede Generation erzieht ihre Kinder anders. Der Goldstandard heutzutage ist: Bindungsorientierte Erziehung. Anstatt mit Vorschriften oder Strenge das Kind zu formen, soll man auf seine Bedürfnisse eingehen. 

"Ich verstehe, dass du wütend bist“, hört man oft als elterliche Reaktion auf Sprösslings Tobsuchtsanfall. Gefolgt von: "Auch ich bin mit dieser Situation unglücklich“, um die eigene Perspektive einzubringen, ehe ein Ausweg angeboten wird: "Lass uns kuscheln, dann wird’s besser.“ 

Ich hab zwar noch nicht oft erlebt, dass ein Kind aufhört, an der Supermarktkassa mit den Fäusten auf den Boden zu trommeln, weil ihm anstelle des verwehrten Paw-Patrol-Zuckerlspenders ein Bussi offeriert wird, aber wertvoll ist liebende Geduld allemal. Und dann erlebte ich nach dem Kinderturnen den epischen Wutausbruch eines kleinen Mäderls. Bitzelnd klammerte sie sich an die Sprossenwand. Sein Vater versuchte keuchend, ihm Finger für Finger zu lösen. Man merkte seine Wut über Töchterchens Wutausbruch an der hervortretenden Halsschlagader. Schließlich gellte der Schrei der Mutter durch den Turnsaal: "Herst Peter, du Trottel, du musst mit ihr auf Augenhöhe reden, also beug dich runter und sag, dass du sie verstehst, depperter.“ Vater Peter folgte und tatsächlich: Das Kind beruhigte sich. 

Mich befiel daraufhin die Vermutung, dass bindungsorientierte Erziehung vor allem dann funktioniert, wenn man des Kleinkinds in diesem Moment verspürte Verzweiflung selbst auch empfindet. Das verbindet. Als Bambino also vor der Kinderarzttür brüllte, sagte ich: "Ich verstehe, dass du keine Spritze willst. Ich möchte auf gar keinen Fall die nächste Einkommenssteuervorschreibung bezahlen. Aber da müssen wir beide durch.“ Und tatsächlich: Er hörte auf zu kreischen. Erziehungskonzepte kommen und gehen. Ewig gültig bleibt: Geteiltes Leid ist halbes Leid.

Vea Kaiser

Über Vea Kaiser

Vea Kaiser ist die Autorin der Nr.1-Bestseller „Blasmusikpop“, „Makarionissi“ und „Rückwärtswalzer“. Ihre Bücher wurden vielfach preisgekrönt und in mehrere Sprachen übersetzt. Die studierte Altphilologin lebt mit Familie am Wiener Stadtrand und schreibt für die freizeit die wöchentliche Kolumne „Fabelhafte Welt“.

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