Küss’ mich, Toxischer!

Als Billie Eilish zur falschen Zeit den Rettungsring werfen wollte

Toxisch, Alte, das ist megatoxisch!“ Das Mädchen mit der Billie-Eilish-Frisur blieb vor einem Pärchen stehen, das sich auf einer Parkbank zu einer wogenden Auseinandersetzung zusammengesetzt hatte. Der Mann, Typ Wollmützchen-Träger in überheizten Räumen, hatte den weinerlichen Part in der Beziehungschoreografie übernommen. Er hatte etwas von „permanenter Überforderung“ gejammert und sein Lamento mit dem Satz „Du, die Gesamtsituation stresst mich hart“ beendet. Sie, weißblonder Kurzpunkschnitt, viel Metall in der Nase, war in der Rolle der Missis Abwertung in dem Spiel. Aus ihrem verbalen Kugelhagel waren Wortfetzen wie „Voll-Lulu“, „nichts auf die Reihe kriegen“ oder „nada Zug zum Tor“ auszumachen gewesen. Beide schienen sich jetzt dennoch durch die Einmischung der ihnen unbekannten Möchtegern-Billie bei ihrem Pingpong empfindlich gestört zu fühlen. Die Blonde sah den grünhaarigen Zaungast ihres Liebeszoffs durchdringend an und fauchte: „Lass dir von Amazon Prime ein eigenes Leben zuschicken und halte dich da raus.“ Billie, die sich offensichtlich selbst gerade in einer emotionalen Stress-Situation befand, unbeirrt zum Wollmützchen: „Google toxisch, google Narzissmus! Und verlasse diese Frau, so schnell du kannst.“ Ich, Audioyeur in sicherer Entfernung, dachte, dass Britney Spears einst mit ihrem Song „Toxic“ einen weltweiten Siegeszug des Adjektivs losgetreten hatte. Gegenwärtig war ja alles toxisch: Beziehungen, Männlichkeit, Arbeitsklima. Ständig stolperte man bei der Lektüre von Interviews über den Satz: „Ich hatte mich gerade aus einer toxischen Beziehung befreit, als ...“ Auch dieser Begriff wird seinen Weg ins Massengrab der Modewörter finden, dachte ich mir, während die Blonde das Wollmützchen niederzuschnäbeln begann und zwischendurch rief: „Küss’ mich, Toxischer, so hot du kannst.“ Da weinte die Billie- Eilish-Raubkopie dicke Tränen, zog weiter und verstand die Welt nicht mehr. Ich schloss mich ihr bei letzterem einfach an.

Pollys X-mas-Specials: 12. und 19. Dez. im Wiener Rabenhof: 11 und 20 Uhr

Polly Adler

Über Polly Adler

Polly Adler steht als Chaos-de-luxe-Kolumnistin auf dem satirischen Beobachtungsposten von Alltags-Irrsinn, Beziehungs-Herausforderungen und Brutpflege. Hinter dem Pseudonym versteckt sich die Wiener Journalistin Angelika Hager. Aus Polly Adlers verrückter Welt entstanden inzwischen acht Bücher, eine TV-Serie und diverse Bühnen-Shows, aktuell „Knietief im Glamour”: die Polly-Adler-Show im Rabenhof. Jeden Sonntag um 11 Uhr.

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