Ausblick auf die Mülltonnenreifen
Warum die gemeine Krautstaude zwar mit dem Sonnenbeet liebäugelt, aber den finsteren Winkel braucht, um zu gedeihen
Neben dem Studium arbeitete ich heimlich an einem Roman und las eifrig über die Leben berühmter Schriftstellerinnen. Egal, was sie schrieben, die meisten residierten in exklusiven Immobilien: umgebauten Mühlen, prachtvollen Jugendstilvillen, geräumigen Altbauwohnungen. Lag ich im Hochbett meiner dunklen Hinterhofgarconniere, stellte ich mir vor, eines Tages auch in einer hellen Bleibe mit atemberaubendem Ausblick zu schreiben.
Fünfzehn Jahre später bin ich tatsächlich Schriftstellerin, doch wie viel Arbeitszeit auf Buchhalten, Organisieren und Korrespondieren verwendet werden will, kam in meinen Träumen nicht vor. Für kurze Zeit wurde allerdings der Traum vom schicken Schreibraum wahr. Als wir in ein Haus zogen, bekam ich das Gartenzimmer, lichtdurchflutetet mit freiem Blick ins Grüne. Vom Schreibtisch aus beobachtete ich das Frühlingserwachen, plante die Gestaltung der Wildnis. Wenn ich mein Söhnchen raunzen hörte, holte ich ihn zu mir, um Vögel und Eichkatzerl zu betrachten. Was ich jedoch nicht tat, war, konzentriert an meinem vierten Roman zu schreiben. Den Frust darüber entlud ich abends an meinem Gatten. Man heiratet ja auch, um nicht allein am eigenen Versagen schuld zu sein. Der Geliebte jedoch fackelte nicht lange, und trug meinen Schreibtisch in den Keller. Hier sitze ich nun.
Legt man den Kopf in den Nacken, sieht man die Räder der Mülltonnen. Ab fünfzehn Uhr sogar mit Tageslicht. Nebenan dröhnt die Wärmepumpe, meterdicke Wände schotten diesen Raum ab und dem Hund ist der graue Fliesenboden sogar bei Hitze zu kalt. Es ist ziemlich deprimierend. Nur mein neuer Roman entwickelt sich prächtig. Was lernte ich beim Aus-dem-Fensterschauen im Gartenzimmer? Die Mehrheit aller Blumen gedeiht im sonnenverwöhnten Humusbeet. Ein paar seltsame Krautstauden hingegen brauchen den kargen Schatten, um zu wachsen.
Kommentare