Psychotherapeut Philipp Ruland

Psychotherapeut Philipp Ruland: Warum Trauma-Arbeit so wichtig ist

Der deutsche Psychotherapeut Philipp Ruland erklärt auf Social Media Tausenden Followern, wieso wir mehr über Trauma sprechen müssen.

In seinem soeben erschienen Buch "Schuld, Scham und der ganze Scheiß", teilt Philipp Ruland erstmals seine eigene Geschichte.

Sie liest sich wie ein Film: Als Sohn eines erfolgreichen Rechtsanwalts wächst er in einem wohlhabenden Umfeld auf – und gerät als Jugendlicher doch auf die schiefe Bahn.  Er treibt sich auf der Straße herum, fängt Schlägereien an, raucht und trinkt. 

Nach der Schule hilft ihm einzig der Job als Türsteher, nicht ganz abzurutschen. Schließlich schließt er das Jurastudium ab, zu dem er sich vom Vater gedrängt fühlt. Doch mit 27 fängt er noch einmal ganz von vorne an und folgt seinem eigentlichen Traum: Er wird Psychotherapeut.

Zehn Jahre nach dem Beginn des Psychologiestudiums kommt in seiner eigenen Therapie der entscheidende Aha-Moment. Das Kindheitstrauma, das so unerträglich war, dass er es 33 Jahre lange verdrängt hat. Eine Diagnose, die sein Leben ändert.

Sie teilen in Ihrem Buch "Scham, Schuld und der ganze Scheiß" (Goldegg Verlag) Ihren persönlichen Traumaweg. Hatten Sie beim Schreiben je das Gefühl, dass Sie vielleicht zu viel preisgeben? 

Philipp Ruland: Nein, für mich war das ganz klar: Wenn ich diese Geschichte erzähle, dann muss ich die Wahrheit sagen. Ich wusste, dass mich Kritik oder Spot über den Kern der Geschichte nicht mehr treffen würden – weil ich ihn verarbeitet habe. 

Philipp Ruland

©Sara Emosivwe

Der Kern, den Sie ansprechen, ist ein sexueller Missbrauch, der Ihnen als kleiner Junge durch Ihre Großmutter widerfahren ist. Ein Erlebnis, das Sie viele Jahre verdrängt haben – bis es in einer Therapie plötzlich hochkam.

Ja, das war mit 37 oder 38 Jahren, als ich bereits selbst Therapeut war. Ich hatte absolut nicht damit gerechnet; es kam einfach so aus der Hecke gefallen. 

Wie haben Sie sich in dem Moment gefühlt?

Es war eine Mischung aus absolutem Entsetzen, ein Stück weit Erleichterung – weil wir den Kern gefunden hatten – und Sprachlosigkeit. Ich bin ja ein sehr offener Typ, aber als das rauskam, habe ich über mehrere Wochen geschwiegen. Besonders hart war die Erkenntnis, dass ich zu dem Zeitpunkt bereits mit traumatisierten Menschen gearbeitet, aber nicht erkannt hatte, dass ich mit ihnen im gleichen Boot saß.

Sexualisierte Gewalt ist generell noch immer ein Tabuthema, aber sexuelle Gewalt an Buben durch Frauen wird kaum thematisiert. Warum ist das so?

Zum einen, weil diese Fälle weniger vorkommen. Im Gros sind die Täter Männer. Wenn Frauen Täterinnen sind, geschieht das oft subtiler: Die Taten passieren häufig in einer Phase, in der die Kinder besonders vulnerabel sind; Jungs entwickeln mit neun oder zehn Jahren schon eine gewisse physische Überlegenheit. Außerdem werden die Übergriffe oft ins Spielerische verpackt – und Jungs reden noch weniger darüber.

Wieso ist Scham eigentlich so ein mächtiges Gefühl?

Ein Kind fühlt sich automatisch schuldig, wenn etwas nicht richtig läuft. Es hat noch keine Fähigkeit zu reflektieren, dass es der Fehler der anderen ist. Wenn ich als Erwachsener auf meine Kindheit blicke – auf meine Legasthenie und meine Dissoziation – sehe ich, dass ich ein kleiner Bub war, der durch eine traumatisierte, gewalttätige Frau, verletzt wurde. Ich weiß, dass ich mich umsonst geschämt habe. Aber ein Kind kann diese Bewertung nicht vornehmen. 

"Ich weiß, dass ich mich umsonst geschämt habe. Aber ein Kind kann diese Bewertung nicht vornehmen"

©Getty Images/iStockphoto/Feodora Chiosea/iStockphoto

Sie erreichen als Trauma-Therapeut heute auch auf Social Media ein großes Publikum: Sie haben 36.000 Abonnenten auf YouTube, 41.000 Follower auf Instagram. Warum ist Trauma-Arbeit so wichtig?

Es gibt Menschen, die kommen zu mir, weil sie depressiv sind – und schon vier Verhaltenstherapien hinter sich haben. Die Therapien waren gut, aber sie sind nicht tief genug gegangen. Sie sind an der Oberfläche hängengeblieben und nicht zum eigentlichen Leid gekommen. 

So wie in Ihrer Kindheit, als man nur die Legasthenie und das Verträumt-Sein sah, aber nicht fragte, was dahintersteckte?

Genau.

Aber wenn man sich dem Trauma stellt, holt es einen dann nicht noch mehr ein?

Philipp Ruland

©Trauma-Therapeut Philipp Ruland: „Wir müssen lernen, die Scham auszuhalten“

Komischerweise nicht. Im Gehirn findet eine Art Neuordnung statt. Es ist, als würde eine falsch abgelegte Erinnerung endlich an ihren richtigen Platz kommen. Aus einem Erlebnis, das in der Not fragmentiert abgelegt wurde, wird eine integrierte Erinnerung – und die sorgt plötzlich nicht mehr für Wildwuchs im Kopf. Da passierte eine innere Synchronisation. 

Männern tun sich oft noch schwerer damit, eine Therapie zu beginnen. Ihre erste Therapiestunde hat damals Ihre Mutter ausgemacht – in einer Zeit, in der Sie als Türsteher gearbeitet haben und in der Gewalt und Alkohol eine große Rolle spielten. Was würden Sie ihrem damaligen Ich sagen?

Ich würde ihm eine ganz andere Lektion über Männlichkeit geben. Damals hatte ich so viele falsche Annahmen: Diese Flucht in physische Stärke war ein hilfloser Lösungsversuch. Auf der einen Seite hat mich dieser Weg zu der Person gemacht, die ich heute bin. Aber wenn ich es weiterdenke, würde ich es so machen, wie mein erster Therapeut: ohne Vorurteile annehmen, was da ist. 

Wieso flüchten wir so gerne vor der Realität, verstecken uns hinter Muskeln, Make-up oder Süchten?

Weil da so viel Angst ist. Und so viel Scham.

Schuld, Scham und der ganze Scheiß

In einer berührenden Traumabiographie erzählt der Psychotherapeut und ehemalige Jurist Philipp Ruland seine Lebensgeschichte und gibt Tipps, wie man sich seinen Ängsten stellen kann.

Goldegg Verlag, 250 Seiten, 22 Euro.

©Goldegg Verlag

Also spielt Scham auch bei Erwachsenen eine große Rolle?

Ja. Das Beschämen ist der letzte Aggressionsakt unserer Gesellschaft. Wir können uns heute nicht mehr auf den Mund hauen, aber wir können den anderen zutiefst beschämen. Wir können sagen: "Du bist moralisch verkommen." Oder: "Du bist unansehnlich.“ Das ist die neue Form von Gewalt.

Wie können wir lernen, damit umzugehen?

Wir müssen lernen, die Scham auszuhalten. Vielleicht war das mein Beitrag: zu zeigen, dass man damit leben kann. Ich kann sagen: "Mir ist das passiert und ich halte das aus." Wir sollten anerkennen, dass unsere wohlgeordnete, digitale Gesellschaft noch verdammt viel Mittelalter in sich trägt. Und dass hinter jeder Fassade eine Bestie schlummert. Man muss sich dem nicht immer aussetzen, aber man sollte sich dem gewahr sein. 

 

Anna-Maria Bauer

Über Anna-Maria Bauer

Wienerin und Weltenbummlerin. Leseratte und leidenschaftliche Kinogeherin. Nach Zwischenstopps in London und als Lehrerin in der Wien-Chronik angekommen. Interessiert an Menschen, die bewegen, begeistern oder entsetzen; an ungewöhnlichen Ideen und interessanten Unmöglichkeiten. "Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit." Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter.

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