Helmut Newton und sein Berlin: Abgründige Erotik im Nazi-Bordell
Ein neues Buch zeigt Berlin aus der Sicht des Starfotografen. Zwar musste er vor den Nazis fliehen, dennoch liebte er die Stadt.
Am Ende jeder Ausstellung, jedes neuen Buches, jedes Films über ihn, drängt sich immer dieselbe Frage auf: Wäre Helmut Newton heute noch möglich? Die Bilder des Starfotografen provozieren, durch ihre Ästhetik, ihren Blick, oft durch ihre offensiv ausgestellte Nacktheit, auch durch ihr umstrittenes Frauenbild. Langweilig sind sie nie. Ein Hingucker immer. In Zeiten der hypermoralistischen Empörungslust scheinen sie unmöglich geworden.
Was hat Newtons Perspektive geprägt, was seinen visuellen Zugang geschärft? Eine Antwort darauf gibt jetzt das Buch "Berlin, Berlin", das von der ambivalenten Liebe zu seiner Heimatstadt zeugt, und die war keineswegs selbstverständlich: 1938, mit nur 18 Jahren und kurz nach den Novemberpogromen, konnte Newton, der Sohn eines jüdischen Knopffabrikanten, vor den Nazis gerade noch aus Berlin fliehen.
Von der Station Bahnhof Zoo aus, also von dort, wo jetzt die Helmut Newton Foundation im ehemaligen Landwehrkasino seinen Nachlass verwaltet (und noch bis Februar mit einer Ausstellung ihren 20. Jahrestag feiert), bestieg er den Zug, mit dem es erst nach Triest ging. Danach weiter nach Singapur, nach Australien. In späteren Jahren nach Paris und Los Angeles.
Newton war ein Weltbürger geworden, Berlin ging ihm dennoch nie aus dem Kopf. Konnte er den Deutschen, die ihn vertrieben hatten, die Nazi-Zeit verzeihen?
Yva und "Nazi-Ästhetik"
"Davon gehe ich fest aus", antwortet Matthias Harder, Kunsthistoriker, leitender Kurator der Newton Stiftung und Autor von "Berlin, Berlin". Zur Verwaltung seines Nachlasses entschied Newton sich gegen New York oder Paris und für seine alte Heimat. Eine Geste der Versöhnung. Und: Newtons Auge war in Berlin geschult geworden, das hat der Fotograf nie vergessen.
Dafür war großteils seine talentierte Lehrerin verantwortlich: Vom Gymnasium ging er mit 16 Jahren ab, um bei der bedeutenden Fotografin Yva (die später im KZ ermordet wurde) nahe dem Kurfürstendamm zu arbeiten. Jeden Donnerstagabend überließ sie ihm ihr Atelier zur freien Verfügung, dann konnte er machen, was er wollte, und er fotografierte seine Freundinnen in den Kleidern seiner Mutter.
Yvas Stil prägte Newton, die Eleganz und das Selbstbewusstsein ihrer Fotos sollten ihm in Fleisch und Blut übergehen. Auch das Bespielen dreier Felder übernahm er von ihr: Mode, Porträt, Akt.
Newton fotografierte mit Hingabe in jeder Sparte, und auch die Frage, was noch eine Werbekampagne ist oder der Auftrag einer Illustrierten, und was schon Kunstfotografie, ließ er ohne Scheu ins Leere laufen. Und natürlich war Newton ein Kind seiner Zeit. Er hatte die sogenannten Goldenen Zwanziger miterlebt, die eigentlich so golden gar nicht waren, aber hedonistisch, verrucht und frivol, was Helmut Newtons Werk immer auszeichnete. Ein Tanz auf dem Vulkan.
Auf der anderen Seite ließ ihn auch die "Nazi-Ästhetik", die seine Jugend in Berlin ebenso prägte, so Harder, nie los. Newton, ein begeisterter Schwimmer, hatte die Olympischen Spiele 1936 in Berlin selbst besucht. Er hatte gesehen, was Fotografen wie Leni Riefenstahl daraus machten: fetischisierter Siegeswille, perfekte Körperwelten, glatte Kälte.
Abgründige Erotik
Auf den Bildern, die Newton 1979 für die deutsche Vogue geschossen hat, ist sein Spiel mit der Vergangenheit deutlich zu sehen. Während seine Fotos 1959 für die damals führende Frauenzeitschrift Constanze noch liebliche Inszenierungen unbescholtener Modemädchen vor Berliner Sehenswürdigkeiten wie dem Brandenburger Tor waren, war er die Sache dieses Mal anders angegangen. Newton kehrte an Orte zurück, an denen er sich als Bub aufgehalten hatte.
Ein "makabres Gretchen", wie die Vogue damals schrieb, sehen wir da im Profil, bezopft, weizenblond und im Lodentrench. Oder eine Frau in einem schlichten Siebzigerjahre-Kostüm, die vor einem Schaufenster mit biederer Unterwäsche steht, das so bereits in den Dreißigern hätte existieren können: Das moderne Heute trifft auf die Spießigkeit des Gestern. Und beim Anblick einer Ménage-à-trois am Ufer des Grunewaldsees überkommt einen kaltes Schaudern: eine Frau, zwei Männer, ein umarmender Abschied – dazu ein Schäferhund und ein Mann im Ledermantel wecken dunkle Assoziationen an die Vergangenheit.
Ob abgründiger Schrecken, voyeuristische Erotik oder erklärungsbedürftige Mann-und-Frau-Arrangements – Newtons Bilder wirken, verwirren und fordern. "Das Bild von Berlin, das er hatte und fotografierte, ist anders als jenes, wenn er Miami oder Los Angeles fotografierte", erklärt Autor Harder. "Es ist melancholisch, voller Sehnsucht. Der schwarze Himmel Berlins stieß ihn einerseits ab, andererseits fühlte er sich zu ihm hingezogen."
Seine Stadt hat ihn nie losgelassen. "Warum fotografiere ich so, wie ich fotografiere: detailliert, hart, scharf?", fragte er sich einmal im ZEIT-Magazin. "Meine Frau behauptet, das habe mit meiner Jugend zu tun, in Berlin. Sie sagt, ich könne meine Vergangenheit nicht leugnen. Vielleicht hat sie ja recht."
Wovon Newton sich noch stets angezogen fühlte: Frauen, selbstverständlich. Berlinerinnen seien fantastisch und sinnlich, meinte er, der mit seinen "Big Nudes", monumentalen Aktfotografien von Frauen in Power-Posen, legendär wurde.
Wie Newton seine Models 1962, wieder für die Constanze, inszenierte, holte Paris nach Berlin. "Solche Bilder von Frauen gab es zu dieser Zeit nicht in der deutschen Presse", so Harder. Selbstbewusst, im Cocktailkleid oder Kostüm, an der Bar im Hilton, stets luxuriös. "Selbst in progressiven Zeitschriften standen die Frauen auf den Bildern damals meist in der Kittelschürze am Herd."
Nackt im "Exil"
Später, 1977, ging Newton noch offensiver ans Werk. So verkehrte er gerne im legendären Künstlerlokal "Exil" des österreichischen Universalgenies Oswald Wiener, ein Tummelplatz für Leute wie David Bowie, Rainer Werner Fassbinder oder Jack Nicholson. Sein Model Jenny Capitain, das er in Paris angesprochen hatte, inszenierte er nackt, als Rückenansicht, im Hinterraum des Lokals, ein Bein nach einem Tanzunfall eingegipst, ihr Blick hinauf geht auf das riesige Deckengemälde von Günter Brus namens "Der Herzinfarkt", auf dem ein Mann scheinbar ob des hüllenlosen Anblicks ebendiesen erleidet: Beauty is killing you.
Newton suchte das Spezielle: altfadrische Pensionen etwa – in denen er nackte Frauen in Hotelbetten fotografierte oder erneut Capitain, so im ehemaligen Nazi-Bordell Pension Florian (Salon Kitty): vollständig nackt, mit Halskrause, Gipsfuß und Gehstock. Oder er ging ins Cabaret "Lützower Lampe", eine Travestie-Bar, wo er das bunte Treiben der Tänzer und Sänger illustrierte.
Die sündige Seite Berlins, die er kannte, seit sein Halbbruder ihn in jüngsten Jahren der Roten Erna, einer stadtbekannten Prostituierten, vorgestellt hatte, hat Newton stets fasziniert. Aber auch in seinen Porträts von Filmstars wie John Malkovich oder David Bowie setzte er die Stadt in Szene; Hanna Schygulla und Wim Wenders fotografierte er an der Berliner Mauer.
Also, wäre Helmut Newton heute noch möglich? "Er würde mit Sicherheit auch heute anecken. Aber er würde sich vermutlich genauso viele Dinge trauen, die möglicherweise gegen den üblichen Geschmack verstoßen, wie damals. Newton war ein Freigeist: Immer wenn er an eine Grenze gestoßen ist, hat er versucht, sie einzureißen."
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