Kritik

Der Roman "Shuggie Bain": Vom Scheitern, wenn Mutter tanzt

Douglas Stuarts allererstes Buch wurde im vergangenen Jahr mit dem renommierten Booker Preis ausgezeichnet

Und wenn man fertig gelesen hat, dann geht’s erst richtig los. Dann drehen sich die Gedanken im Ringelspiel, und man hält genau dort an, wo Thomas Rohde Folgendes verortet: „ein bitteres, einsames Scheitern.“ Rohde ist Sprecher des Hanser Berlin Verlags. Er war mit Douglas Stuart auf Pressereise. Da bleibt man nachdenklich. Bitteres, einsames Scheitern: Weil man damals, aus welchen Gründen auch immer, nicht bei ihnen war, als Vater/Mutter gestorben sind. Weil man ihnen nicht hatte helfen können.

Douglas Stuart war zwar für seine alkoholkranke Mutter (Bier und Wodka) immer da. Er war, als alles begann, erst zehn! Und bat sie, ihm ihr Leben zu erzählen – später wollte er ihre Memoiren schreiben. Da redete sie und trank nicht. Retten konnte er sie dadurch freilich nicht. Davon handelt „Shuggie Bain“, 2020 mit dem Booker Preis als bester englischsprachiger Roman ausgezeichnet worden. Schnell war das Buch eine Million Mal verkauft.

Tanzen

Was überraschend ist: „Shuggie Bain“ ist Douglas Stuarts allererster Roman. Der Schotte (Foto oben) war nach New York gezogen und hatte dort für große Modemarken wie Calvin Klein designt, ehe er solche Bilder über eine Arbeiterfamilie in Glasgow, 1980er Jahre, zu Papier brachte: Shuggies Mutter tanzt mit einer Bierdose, sie träumt, wieder jung und begehrenswert zu sein. Ihr Mann, ein Taxilenker, war eines Tages nicht mehr heimgefahren. Wacht sie auf, fühlt sie sich dumm und aufgequollen. Als ihr Sohn Shuggie sie umarmen will, stößt sie ihn weg.

Solche Bilder: Wie wird Mutter sein, wenn er von der Schule kommt? Er hat Angst – hat Verstopfung, Durchfall. Sind die Vorhänge zugezogen, ist es ein gutes Zeichen. Dann ist ihr nicht egal, wenn die Nachbarn durchs Fenster schauen. Dann wird sie sich schminken und draußen wie eine feine Dame auftreten. Aber hört er, wie sie ein Country-Lied singt, ist es ein schlechtes Zeichen, dann wird sie gleich weinen. Oder Männer anrufen und beschimpfen, die ihr etwas angetan haben. Douglas Stuart hat einen Ton gefunden, der kein einziges Mal um Mitgefühl bettelt. Das passiert „einfach“ (und danach drehen sich die Gedanken).

Douglas Stuart:

„Shuggie Bain“
Übersetzt von Sophie Zeitz.
Verlag Hanser Berlin.

Erhältlich u.a. bei Amazon.de
26,95 Euro

KURIER-Wertung: **** und ein halber Stern

Peter Pisa

Über Peter Pisa

Ab 1978 im KURIER, ab 1980 angestellt, seit November 2022 Urlaub bzw. danach Pension. Nach 25 Jahren KURIER-Gerichtsberichterstattung (Udo Proksch, Unterweger, Briefbomben) im Jahr 2006 ins Kultur-Ressort übersiedelt, um sich mit Schönerem zu beschäftigen. Zunächst nicht darauf gefasst gewesen, dass jedes Jahr an die 30.000 Romane erscheinen; und dass manche Autoren meinen, ihr Buch müsse unbedingt mehr als 1000 Seiten haben. Trotzdem der wunderbarste Beruf der Welt. Man wurde zwar immer kurzsichtiger, aber man gewann an Weitsicht. Waren die Augen geschwollen, dann Musik in wilder Mischung: Al Bowlly, Gustav Mahler, Schostakowitsch und immer Johnny Cash und Leonard Cohen.

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