Weekender Vilnius: Hoch soll sie Leben!

Vilnius wird 700 Jahre alt und ist doch jung wie nie. Seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion 1991 hat Litauens Hauptstadt eine Metamorphose erlebt. In ihren Straßen spiegelt sich Geschichte und Fortschritt, die bittere Vergangenheit und die süße Zukunft.

Man kann sie noch nicht sehen, aber hören: Die  Akkordeonspieler auf dem kleinen Platz in der Altstadt von Vilnius. Erst nach der nächsten Hausecke gibt die Straße den Blick frei auf die beiden Musiker und die vier, fünf Paare, die sich im Takt dazu bewegen. "Ach, das ist  nichts Besonderes“, sagt Sofia, die in der Bäckerei vis à vis Brot und Brötchen verkauft und streicht sich eine blonde Locke aus dem Gesicht. "Das machen wir  so in Litauen. Wenn uns zum Tanzen zumute ist, dann tanzen wir! Wir sind halt ein bisschen verrückt.“  

Lange Zeit hatten die Menschen in Vilnius keinen Grund, leichtfüßig unterwegs zu sein. In den vergangenen Jahrhunderten spielte die Geschichte ihnen oft übel mit. Während des Zweiten Weltkriegs marschierten erst sowjetische Truppen ein, dann kamen die Deutschen, brachten fast die Hälfte der Bewohner um. 1944 eroberte die Rote Armee Litauen zurück; Zehntausende von Menschen wurden in den Folgejahren nach Sibirien verschleppt. Erst am 11. März 1990 erklärte Litauen seine Unabhängigkeit – übrigens als erstes Land der Sowjetrepublik. Estland und Lettland folgten.  

Seitdem gehen die Balten schnellen Schrittes in die Zukunft. Und wer sich in der litauischen Hauptstadt umsieht, erkennt an jeder Straßenecke den Fortschritt, der sich in Baukränen zeigt, die sich in den Himmel recken, in glitzernden neuen Hausfassaden, Leuchtreklamen und jeder Menge schicker Cafés, Restaurants und Bars, die in ungewöhnlichen Locations eröffnen. Etwa in der großen Halės turgus, der Markthalle von 1906, die sich am Abend in eine lebendige Bühne für Bars und Szenegänger verwandelt. Auch das alte Lukiškės Gefängnis, einst düsterer Ort des Eingesperrtseins, ermöglicht heute 250 Künstlern und anderen Kreativen, sich frei zu entfalten. Das imposante Gebäude, das mit seinen Ausstellungen und Aufführungen magisch anzieht, diente schon der Netflix-Serie "Stranger Things“ als Kulisse.  

Echo aus der Vergangenheit: Im Alten Arsenal ist die archäologische Ausstellung "Urgeschichte Litauens“ untergebracht. Im Hintergrund – der Finanz-Distrikt

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Festivals das ganze Jahr

Heuer  haben die Bewohner von Vilnius und ihre Gäste einen besonderen Grund zu feiern: Die  570.000 Einwohner zählende Stadt wird 700 Jahre alt. Zum Geburtstagsjahr gibt es viele Events  – vom Musikfestival "As Young as Vilnius“ über die Vilnius Biennale für Performance-Kunst, dem Projekt "Music für Vilnius“, das weltberühmte Komponisten vereint, Ausstellungen, die  in die historische Vergangenheit der Stadt eintauchen bis hin zu Outdoor-Aktivitäten. 1323 erwähnte Gediminas, der Großherzog von Litauen, die Stadt zum ersten Mal in seinen Briefen an ausländische Kaufleute und Handwerker. Seitdem ist viel passiert.

Große Freiheit im Lukiškės-Gefängnis 2.0: Heute finden hier Kunstveranstaltungen statt.

©Lukiskes Prison/mantas repecka

Unter anderem kam Italien an die Ostsee in Form der Prinzessin Bona Sforza. Im April 1518 heiratete die damals 24-Jährige aus dem großen italienischen Adelsgeschlecht der Sforza den mehr als doppelt so alten Sigismund "den Alten“, König von Polen und Großfürst von Litauen. Mit der fleischlastigen, osteuropäischen Küche stand sie bald auf Kriegsfuß und führte die für damalige Zeiten exotischen Gemüse- und Obstsorten wie Karfiol, Spinat, Gurken, Oliven und Zitronen ein. Bier und Met ließ sie durch Wein ersetzen,  einheimische Köche durch Landsleute. "Aber sie brachte auch die italienische Leichtigkeit und Lebensfreude mit nach Litauen“, sagt Lina Dusevičienė, die als Vilnius-Guide durch die Stadt führt: "Und die Renaissance.“ Mit ihr kamen nämlich viele italienische Architekten, Künstler und Musiker nach Litauen und Polen und veränderten das Stadtbild und die Kultur. 

Vilnius-Wahrzeichen über dem Fluss: Der achteckige Gediminas-Turm ist der einzige noch erhaltene Teil der Burganlage
 

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Zwar litt Vilnius unter den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs, vieles wurde aber originalgetreu wieder aufgebaut. Und so zeigt sich vor allem die Altstadt wie ein Rundgang in Architektur-Geschichte: Besonders auffällig ist die gotische St. Annen-Kirche, eines der ältesten Gotteshäuser der Stadt, in der unzählige verschiedene Ziegelarten verbaut sind. Bis auf Renovierungsarbeiten blieb der imposante gotische Backsteinbau aus dem 15. Jh. praktisch unverändert. Überliefert, aber nicht belegt ist, dass Napoleon beim Anblick der Kirche gesagt haben soll: "Ach, wenn ich könnte, würde ich dieses Kleinod auf den Händen nach Paris tragen.“ Am Vorabend seines Russlandfeldzuges war Vilnius eine wichtige Grenzstadt des Russischen Reiches. Und ist auch heute noch dem russischen Einflussbereich nah: Die Grenze zu Belarus liegt nur 30 Kilometer entfernt.  Vielleicht trafen sich genau deshalb im Juli die Vertreter der Natostaaten hier. 

Rom des Ostens

Als am 24. Juni 1812 Frankreichs Große Armee den Fluss Niemen überquerte und in Vilnius einmarschierte, begrüßten die Einwohner die Soldaten als Befreier. Napoleon hielt sich nur 19 Tage in Vilnius auf, aber das hatte Folgen. Damit begann das, was die Geschichtsschreibung die Französische Periode nennt. Sie veränderte den Lebensrhythmus der Litauer nachhaltig.  Wegen seiner über 50 Kirchen trägt Vilnius  den Beinamen "Rom des Ostens“ und nicht wenige der Gotteshäuser sind Bauwerke des Barocks, die man beim Schlendern durch die Gassen entdecken und wie Schmuckstücke sammeln kann.

Das 2018 eröffnete Museum für moderne Kunst – Mo Museum – wurde vom US-amerikanischen Stararchitekten Daniel Libeskind geplant
 

©Rytis Seskaitis

Johann Christoph Glaubitz, ein in Böhmen geborener Baumeister, gilt heute als Schöpfer des litauischen Barocks. Stadtführerin Lina Dusevičienė: "Der war hier zu Beginn des 18. Jhs. der totale Star!“ Er hinterließ seine Handschrift an vielen heute noch existierenden Gebäuden, wie zum Beispiel der St. Johannis- und der St. Katharinen-Kirche. Auch den originellen Glockenturm, der zum Architekturensemble der Universität gehört, hat Glaubitz entworfen – bis  heute das höchste Gebäude der Altstadt. Von seiner Spitze aus hat man einen  fantastischen Rundumblick. So wird der Gang durch die Altstadt von Vilnius zu einem Spaziergang durch die Jahrhunderte und historischen Stilepochen.

"Auch wenn die Altstadt eine der größten Europas ist, kann man hier alles gut zu Fuß erreichen“, sagt Lina Dusevičienė. Die 52-Jährige ist davon überzeugt, dass der Einfluss der Italiener, Franzosen, Böhmen und nicht zuletzt auch der Polen, mit deren slawischer Kultur Litauen aufs Engste verbunden war, ihre Landsleute weltoffener, feier- und genussfreudiger gemacht hat als zum Beispiel die Esten und Letten. Nicht unerheblich war auch die Präsenz der Juden:  Vilnius hatte über Jahrhunderte die größte jüdische Gemeinde in Europa; fast jeder zweite Bewohner war jüdischen Glaubens, 100 Synagogen zierten die Stadt. Jetzt leben nur noch rund 2.500 Juden in der baltischen Metropole, aber ihre Geschichte wird im jüdischen Viertel der Altstadt lebendig. Hier finden sich auch Restaurants, in den noch nach Großmutters Rezeptbuch jiddische Küche zubereitet wird. 

Die Rote Rübe spielt eine große Rolle in der litauischen Küche. Besonders beliebt: die kalte Rote-Rüben-Suppe Šaltibarščiai

©go vilnius/gabriel khiterer

Apropos Genuss: "Vilnius hat sich – gerade was das Essen betrifft – unglaublich weiterentwickelt in den letzten Jahren“, weiß die blonde Insiderin. "Die Qualität ist gestiegen und auch die Auswahl.“ Man isst gerne international und bleibt doch den kulinarischen Genusstraditionen treu. „Wir lieben zum Beispiel unser selbstgebackenes Roggenbrot, Topfen und ein Dessert, das viele erstaunt: frische Gurken mit Honig. Unbedingt probieren! Das isst man hier in jeder Familie.“ Extra zum 700-jährigen Jubiläum der Metropole wurde auch ein eigenes historisches Vilnius-Menü kreiert. Für eine besondere Spezialität der Litauer muss man allerdings Vilnius verlassen, raus aus der Stadt und rein in die umgebenden Wälder fahren: Bis September ist Eierschwammerlzeit, noch bis Anfang November wachsen hier Steinpilze. "Wir Litauer sind verrückt nach Pilzen! Sie zu sammeln ist so etwas wie ein Nationalsport. Es gibt sogar ein Pilzfestival mit einem Wettbewerb, bei dem gewinnt, wer in kürzester Zeit sein Körbchen voll hat“, lacht Lina.

Über 100 Jahre alt: die Halės-Markthalle verwandelt sich abends in ein beliebtes Ausgehziel mit Bars und Imbissen
 

©Go vilnius

Kuriose Fakten, Wussten Sie, dass ... ?

… Vilnius 2009 die erste Metropole einer ehemaligen Sowjetrepublik war, die den Titel Kulturhauptstadt Europas trug?

… fast 70 Prozent der Stadt aus Parks, Plätzen und  Grünflächen besteht?

… hier in der Nähe, im Dorf mit dem Namen Purnuškės, das geographische Zentrum Europas liegt?

 

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