Alpen, Palmen, Pizza & Burgen: Das beste zweier Welten

Nicht so lieblich wie das Tessin verbindet das benachbarte Moesa in Graubünden doch das Beste aus der Schweiz und Italien.

Wo die Schweiz am wildesten ist, in Graubünden, gleich nach dem berüchtigten Via Mala-Tal, über die eisigen Höhen des San Bernardino-Passes, weit, weit weg von Tourismus-Magneten wie St. Moritz, liegt die kaum bekannte Region Moesa. In steilen Serpentinen windet sich die Straße ins Tal hinunter, umringt von Bergriesen wie dem Piz de Mucia und dem Piz de la Lumbreida, mächtige 3.000er, auf denen der Schnee sich hartnäckig bis in den frühen Sommer hält.

Bergriesen und Palmen, dazu alte Kirchen und beschauliche Dörfer. Wie hier in Leggia, einem Nachbarort von Verdabbio und Grono

©TVB Moesano

Doch kaum wird das Gefälle sanfter, kommt man in eine kleine Stadt, wie man sie hier einfach nicht erwarten würde, nur wenige Kilometer Luftlinie von Schweizer Alpin-Klassikern wie Splügen, Nufenen oder Hinterrhein: Mesocco. Die Stimmung hier ist überraschend südlich, und man fragt sich, ob's an der Architektur liegt, den hübschen Steinhäusern, aus denen durchaus auch Meister Geppetto treten könnte, ohne dass man sich wundern würde.

©TVB Moesano

Doch dann erkennt man schnell, was hier wirklich anders ist: Auf knapp 800 Metern Seehöhe liegt man zwar etwa in der gleichen Liga wie Bad Hofgastein – aber es wachsen nicht nur Oleander und Kamelien neben Pfirsichbäumen und Edelkastanien, sondern sogar Palmen!

Mittelalter hautnah

Den Namen der ganzen Region bestimmt der Fluss, an dem eine ganze Reihe von Städtchen und Dörfern wie Perlen an einer Kette aufeinanderfolgen: die Moesa. Hauptort und oberster Gerichtshof war schon im Mittelalter besagtes Mesocco mit der beeindruckenden Burg, einer der größten der gesamten Schweiz.

Die Burg: Das Castello di Mesocco in der Graubündener Region Moesa

©TVB Moesano/aris cereghetti

Die kleine Kirche gleich daneben, Santa Maria del Castello aus dem 12. Jh., sorgt im Gegensatz zur weithin sichtbaren Burg erst wenn man sie betritt für Staunen. Sie ist praktisch komplett mit Fresken von Nicolao de Sergnio aus dem 15. Jahrhundert ausgemalt, in prachtvollen Farben sieht man nicht nur das letzte Abendmahl, sondern auch mittelalterliche Alltagsszenen, beinahe einen frühen Comic. Und, auf eigene Art beeindruckend, etliche, jahrhundertealte Graffiti jugendlicher Kirchgänger.

Neben der mächtigen Burg von Mesocco steht die Kirche Santa Maria del Castello, ihr Inneres ist mit prächtigen mittelalterlichen Fresken geschmückt. Unter anderem der hl. Georg, der den Drachen tötet

©Bahnmüller / Interfoto / picturedesk.com/Bahnmüller/Interfoto/picturedesk.com

Unten, im Zentrum des Städtchens, stehen die alten Herrenhäuser, viele noch mit den Wappen der wichtigen Familien versehen, daneben versprüht der aufgelassene Bahnhof melancholischen Charme.

Bevor die Bundesstraße gebaut wurde, war die Schmalspurbahn zwischen Bellinzona und Mesocco die wichtigste Verkehrsverbindung.

Das hübsche, mittelalterliche Bellinzona liegt am Ende des Tals, Kurz davor treffen die Moesa und der Tessin aufeinander. Von hier fuhr früher die Lokalbahn nach Mesocco, dem Hauptort des Mesolcino

©Getty Images/Alessandro Perazzoli/istockphoto

In Mesocco lässt es sich auch gleich einmal ganz gut einkehren, im Ristorante Fasani mitten im Ortskern, wo man auch übernachten kann und herrliche Hausmannskost vorgesetzt bekommt. Oder im Pasta al Matarello, wo Daniela, eine junge Wirtin aus der Romagna, selbstgemachte Pasta und Piadina, Fladenbrot aus ihrer Heimat, serviert, das sie mit lokalen Köstlichkeiten füllt.

Genuss, Genuss, Genuss

Und weil wir gerade bei lokalen Köstlichkeiten sind. Es heißt ja, dass sogar die verwöhnten Tessiner gern nach Moesa fahren, wenn’s um Kulinarik und Atmosphäre geht. Weil  der Prosciutto Mesolcinese eben besonders ist, mit Knoblauch gewürzt, geräuchert und sieben Monate in klarer Bergluft getrocknet. Weil’s hier einzigartigen Coppa gibt, fettdurchzogenen luftgetrockneten Schinken aus Schweinenacken, und Carne secca, das berühmte Trockenfleisch Graubündens.

Die Spezialitäten kommen direkt aus der Region. U. a. von Rindern aus der Gegend von Mesocco oder wie diese hier aus dem Calancatal gleich nebenan

©fabian kuenzel

Und Wurstspezialitäten, die im Tessin bereits selten geworden sind, Salametto, eine kleine, rubinrote Salami, die auch „di cervo“, also vom Hirsch angeboten wird. Weil die dicken Luganighe-Würste mit ordentlich Merlot und extra Schwarte gemacht werden und gut eine Stunde vor sich hin köcheln, bevor sie serviert werden.

Etwas außerhalb von Roveredo steht der mittelalterliche Torre di Bogiano. Im Ort selbst gibt's unglaublich gute Metzgereien...

©Aris cereghetti

Für Fans dieser Köstlichkeiten wurde Roveredo im Süden des Tals zu einer Art Wallfahrtsort, dort bieten gleich zwei, nur durch die Hauptstraße getrennte Metzgereien alles an, was Herz und Magen begehren: Ivano Boldini und die Famiglia Fagetti. Sie beliefern auch die im Süden der Schweiz so beliebten Grotti, die’s natürlich auch im Mesolcina gibt. Der Name stammt übrigens von den Felsenhöhlen, in denen ursprünglich Wein, Schinken und Käse aufbewahrt wurden.

Zwei ursprüngliche, unausgebaute Grotti in der Nähe von Cama

©TVB Moesano/PIERNICOLA FEDERICI

46 gibt es hier, nur wenige wurden zu Gasthäusern ausgebaut, Bundi alla Bellavista, Prandi und Milesi Belloli sind die beliebtesten. Und auch für sie nehmen die Tessiner gern einige Kilometer Fahrt in Kauf, denn in Moesa sind Grotti eben noch echte Grotti, authentisch, mit eigenem Felsenkeller in dem Würste, Schinken und Käse reifen. Und wo keine Pasta oder gar Pizza serviert wird.

Das idyllische Soazza liegt nur wenige Minuten südlich von Mesocco. Und gleich in der Nähe gibt's eine famose Pizzeria!

©Andrea Furga

Wem der Sinn allerdings ausdrücklich nach Pizza steht, der kann auch die im hier Tal genießen – und zwar auf in jeder Hinsicht spektakuläre Weise. Fährt man von Mesocco weiter nach Süden, kommt man durch das malerische Soazza, wo auf den Hängen über dem Dorf uralte Edelkastanienbäume mit einem Umfang von bis zu sieben Metern stehen.

©Grafik

Gleich nach dem Dorf steht die Pizzeria Boffalora an der Landstraße, und dort wird nicht nur die beste Pizza zwischen Rom und Rüsselsheim serviert, man sitzt im idyllischen Gastgarten quasi neben einem ausgewachsenen Wasserfall, in dem die Buffalora (ja echt, mit „u“), ein Nebenfluss der Moesa, sich gut 30 Meter oberhalb über die Klippe stürzt. Das passiert, je nach Jahreszeit, mal lieblich plätschernd – oder mit Getöse.

Bilderbuch-Idylle

Noch ein Stückchen weiter nach Süden klebt oben am steilen Hang das Dorf Verdabbio. Wenn auf einen Ort der Ausdruck Bilderbuch-Dorf zutrifft, dann auf diesen. Die alten, mörtelfreien Trockenmauern wurden hier wieder instand gesetzt, sogar das Straßenpflaster mancher Gassen besteht aus hochkant gelegtem Bruchstein. Und ja, auch hier oben, quasi beinahe auf Almhöhe, begleiten uns prächtige Palmen.

Der Torre Fiorenzana in Grono. Gleich ums Eck liegen Verdabbio und der Eingang ins Val Calanca

©Aris cereghetti

Maßgeblich beteiligt am schmucken Bild von Verdabbio sind Annadora Senn und  ihr Mann Benni. Mit viel Liebe zum Detail haben sie hier einen alten Bauernhof samt Nebengebäuden renoviert und betreiben ein einfaches aber schmuckes Gästehaus: Casa  Dosc, sehr empfehlenswert.

Der alte Wehrturm der „Herren von Sax“ in Sta. Maria im Calancatal, dem zweiten, etwas wilderen Tal Moesas

©TVB Moesano/ rudy jörg

Und Verdabbio liegt strategisch wirklich günstig. In wenigen Minuten ist man sowohl in Mesocco als auch in Roveredo – oder in Grono, von wo aus man ins Val Calanca kommt, dem zweiten, noch etwas wilderen Tal in Moesa. Castaneda, Sta. Maria, Braggio und Rossa sind pittoreske Dörfer mit uralten Kirchen und Wehrtürmen, Wasserfällen und wildromantischen Wanderwegen.

Die alte Ponte Romano zwischen Mesocco und San Bernardino liegt auf einer beliebten Wanderroute

©Aris cereghetti

An den Hängen grasen die typischen grauen Ziegen Moesas und rätisches Grauvieh, aus deren Milch man hier den famosen Formagella macht, einen halbweichen, würzigen Käse. Apropos: Haben wir überhaupt schon vom Käse in Moesa gesprochen?! Na gut, vielleicht beim nächsten Mal.

Der Ururururopa und die Burg

Wie eine alte Familiengeschichte bestätigt wird, aber alles doch ganz anders ist.

Der Redakteur und sein Sohn Karim versuchen gemeinsam die Inschrift am Fuß der Burg von Mesocco zu entziffern. Und entdecken den Namen eines Schweizer Nationalhelden: Gaspare Bovelino

©Bovelino Andreas

"Die Sage von Gaspare Bovelino, der vom niederträchtigen Feldherren Trivulzio vom höchsten Turm der Burg in den Tod gestürzt wurde, wird in Graubünden noch heute in der Schule gelehrt. Jedes Kind hier kennt also Ihren Namen“, erklärt mir der Historiker Luigi Corfu die am Fuß der Festung von Mesocco in Italienisch verfasste Inschrift. Als Anführer der Patrizier des Tales sollte er die Burg vom verhassten französischen Heerführer zurückkaufen. Der nahm das Geld – und ließ ihn dann ermorden. Anfang des 16. Jahrhunderts soll das passiert sein.

Ohne die genauen Zusammenhänge zu kennen hatte meine Großmutter mir diese Geschichte erzählt, als ich noch ein kleines Kind war. Und im Schatten der Festung Hohensalzburg pflegte mein Vater zu sagen: „Wir hatten zwar keine eigene Burg, aber immerhin wurde unser Urururururgroßvater von einer hinuntergeworfen.“ Irgendwo in der Schweiz, mehr wusste er schon nicht mehr darüber.

Von den höchsten Zinnen der Burg in Mesocco fiel der Arme. Angeblich ...

©TVB Moesano/andrea furger

Also habe ich mich schließlich aufgemacht, ein wenig recherchiert, und landete mit Frau und einem meiner Söhne im wunderbaren Mesocco. Danke, lieber Urururururgroßvater, ohne dich hätte ich diese magisch schöne Gegend nie entdeckt!

Und dann kam es. Die bittere Wahrheit, das Ende einer seit Jahrhunderten überlieferten Familiengeschichte: „Es waren mittelalterliche Fake News“, fügte Andrea a Marca, dessen Familie ihr Privatarchiv in der Stiftung „Fondazione Archivio a Marca“ in Mesocco öffentlich gemacht hat, nämlich hinzu, kaum dass die Worte des Historikers mich einige Zentimeter wachsen haben lassen.

Es sollte Stimmung gemacht werden gegen die Trivulzios, denn tatsächlich sei ein weniger bekannter Mann aus Mesocco zu dieser Zeit zum Tod verurteilt worden, weil Zahlungen verweigert wurden. Man schrieb also die Story ein wenig um und gab vor allem dem Opfer einen Namen, der den Menschen im Tal etwas bedeutet, und so wurde Gaspare Bovelino quasi zum Wilhelm Tell der südlichen Schweiz.

Im Inneren der Burg ist längst Gras über alte Intrigen und Verschwörungen gewachsen

©TVB Moesano/Aris Cereghetti

„Denn der Name Bovelino ist seit den Anfängen Mesoccos mit der Stadt verbunden“, sagt der Historiker. Und zum Trost: Ermordet wurde genau zu dieser Zeit tatsächlich ein Vertreter der Familie. Martino Bovelino, Botschafter des Grauen Bundes in Venedig, fiel auf einer diplomatischen Reise in die Lombardei einem hinterhältigen Attentat zum Opfer. Und Auftraggeber waren keine Geringeren als die Medicis, wie mir die Herren Corfu und a Marca erklären. Auch nicht schlecht als Gutenachtgeschichte für künftige Enkelkinder.

Und ganz vergessen muss ich den guten alten Gaspare schließlich auch nicht. Immerhin ist SEINE Geschichte in Stein gemeißelt.

Andreas Bovelino

Über Andreas Bovelino

Redakteur bei KURIER freizeit. Ex-Musiker, spielte in der Steinzeit des Radios das erste Unplugged-Set im FM4-Studio. Der Szene noch immer sehr verbunden. Versucht musikalisches Schubladendenken zu vermeiden, ist an Klassik ebenso interessiert wie an Dance, Hip-Hop, Rock oder Pop. Sonst: Texte aller Art, von philosophischen Farbbetrachtungen bis zu Sozialreportagen aus dem Vorstadt-Beisl. Hat nun, ach! Philosophie, Juristerei und Theaterwissenschaft und leider auch Anglistik durchaus studiert. Dazu noch Vorgeschichte und Hethitologie, ist also auch immer auf der Suche einer archäologischen Sensation. Unter anderem.

Kommentare