Auf den Spuren von Hermann Hesse: Weekender im Tessin
Wie hat Hermann Hesse seine Wahlheimat geliebt! Das mediterrane Licht, die kleinen Dörfer, die vielen Seen. Vor 100 Jahren erschien der legendäre Roman „Siddhartha“ des Nobelpreisträgers, den er im Tessin schrieb. Ein schöner Anlass die „Schweizer Sonnenstube“ neu zu entdecken.
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Der Tisch mit den beiden Steinbänken sieht verlassen aus. Jemand hat den Efeu gestutzt, damit er nicht noch weiter über das Ensemble wuchert. Das thront etwas erhöht und entfernt von den anderen Tischen und Bänken des Grotto del Cavicc von Collina d’Oro, die jetzt am Abend schnell besetzt sind. Und während die Kellner des Lokals flink mit Tabletts voller Teller und Wein unter den aufgespannten Markisen hin und her wuseln, würde ein Mann gar nicht weiter auffallen, wenn er sich jetzt an seinen Lieblingsplatz unter dem grünen Dach der Bäume setzen und Polenta mit Pilzen bestellen würde – Hermann Hesse, einer der berühmtesten Schriftsteller der Moderne, der behauptete: „Die Grotti sind unsere Schatzkammern, die kühlen, kleinen Weinkeller der Bauern. Wo freundliche Menschen ein Glas Landwein trinken, ein Stück Brot essen und miteinander plaudern.“
Der Deutsche mit dem Strohhut
Ganz in der Nähe hat er gewohnt. Aber der Autor ist schon lange tot. Vor 60 Jahren starb der 1877 im deutschen Calw geborene Nobelpreisträger für Literatur in seiner Wahlheimat Tessin – der „Sonnenstube“ der Schweiz. Dort, wo schon Palmen ihre Wedel ausbreiten und Italienisch gesprochen wird, das Klima auch im Winter mild ist. Die letzten 43 Jahre seines Lebens hat „der Deutsche mit dem Strohhut“ am Luganersee verbracht.
Vor 100 Jahren erschien sein berühmtes Buch „Siddhartha“, das er hier geschrieben hatte. 2022 wäre der hagere Mann mit der runden Drahtbrille 145 Jahre alt geworden. Und das Hesse-Museum, das sich im Dorfkern von Montagnola so hübsch zwischen zwei Platanen präsentiert, feiert in diesem Jahr den 25-jährigen Geburtstag. „Nie aber habe ich so schön gewohnt wie im Tessin, und noch keinem meiner Wohnorte bin ich so lange treu geblieben wie dem jetzigen“, schrieb Hesse, und man versteht ihn sofort, wenn man auf seinen Spuren durchs Tessin wandelt.
Kultort für Künstler
Die Gemeinde Collina d’Oro – Goldener Hügel – zu der auch sein letzter Wohnort Montagnola gehört, hat einen Wanderweg mit mehreren Stationen ausgeschildert, die zu den Lieblingsplätzen des meistgelesenen deutschen Schriftstellers führt und zu Orten, die für ihn von Bedeutung waren. Dazu gehört auch das Grotto del Cavicc, das er oft besuchte, ein bezaubernder Weg, der immer wieder Blicke auf den See öffnet und auch der Friedhof, auf dem er begraben liegt und den er sich selbst für seine letzte Stätte ausgesucht hat. 1919 zog Hermann Hesse nach Montagnola und lebte hier bis zu seinem Tod 1962. Aber schon 1907 war er mit dem Tessin das erste Mal in Berührung gekommen und zwar an einem besonderen Ort: dem Monte Verità. Der „Wahrheitsberg“ zog Anfang des letzten Jahrhunderts vor allem Intellektuelle und Künstler, Lebensreformer, Pazifisten und Anarchisten in seinen Bann. Menschen, die die gesellschaftlichen Fesseln abstreifen und ein neues Leben proben wollten. Unter der Leitung des belgischen Industriellensohns Henri Oedenkoven und der Münchener Pianistin Ida Hofmann entstand hier eine „Vegetabile Cooperative“ und Naturheilstätte Sonnen-Kuranstalt, der bald das Sanatorium Monte Verità folgte.
Vor und während des 1. Weltkriegs kamen Emigranten und Flüchtlinge aus den am Krieg beteiligten Staaten wie Hans Arp, Ernst Bloch und Hugo Ball auf den 321 Meter hohen Berg nordwestlich der Altstadt von Ascona. Durch Hermann Hesse, aber auch Gerhart Hauptmann, Bruno Goetz und Gusto Gräser, wurde der Ort zu einem Mythos. Gerade lief der Film „Monte Verità – Der Rausch der Freiheit“ mit Starbesetzung in den Kinos. Denn noch heute fasziniert der Ort. „Er ist ein besonderer Kraftplatz“, sagt auch Claudio Andretta, der über solche Orte in der Landschaft des Tessins ein Buch geschrieben hat („Orte der Kraft im Tessin“, AT-Verlag). Mit ihm zu diesen energetischen Plätzen im Tessin zu wandern ist ein besonderes Erlebnis.
Tal der Träume
Als ein außergewöhnliches Ziel kann sich auch das Dorf Corippo im Verzasca-Tal bezeichnen. Die Jahrhunderte alten, kleinen, durch enge Gassen verbundenen Steinhäuser kleben verlassen am Bergrücken.
Aber der Schein trügt. Schon 1975 hat sich hier eine Initiative gebildet, die das Ensemble mit neuem Leben füllen, das kleinste Dorf der Schweiz wieder attraktiv machen wollte. Jetzt nach Jahrzehnten sind einzelne Häuser schlicht schön umgebaut worden; in ihnen werden sich Gäste zu Nacht betten. Ein „Albergo diffuso“ ist in und aus Corippo entstanden.
Désirée und Jeremy – ein junges, sehr sympathisches, französisch-schweizerisches Gastgeberpaar hat die Leitung des ungewöhnlichen Hotelkonzepts übernommen und verwöhnt seit März dieses Jahres seine Gäste mit charmanter Gastfreundschaft und einer erstklassischen, modernen, italienischen Alpenküche.
Hermann Hesse hätte das bestimmt gefallen. Den von Kastanienbäumen gerahmten Weg aus dem Dorf hinaus, das Verzasca-Tal hinauf, immer am Wasser entlang ist der Nobelpreisträger bestimmt auch so manches Mal gewandert. Denn das Tal gilt als eines der schönsten im Tessin. Still ist es hier, der Blick auf das in allen möglichen Grün-, Blau- und Türkisschattierungen schimmernde Wasser der Verzasca nimmt den Wanderer gefangen. Sonnenstrahlen tanzen durch das Blätterdach. Geradezu meditativ setzt man hier einen Fuß vor den anderen – bis Lachen einen aus der traumwandlerischen Wanderung herausholt: Bei der „Ponte dei salti“, der doppelbögigen „Römerbrücke“, die doch aus dem Mittelalter stammt, springen Jugendliche in die vom Wasser geformten und gefüllten Steinbecken – eines der meist fotografierten Landschaftsmotive des Tessins.
Exotische Pracht im See
Wasser und Berge – diese Kombination ist vielleicht das, was an der Sonnenstube der Schweiz am meisten fasziniert. Zusammen mit dem mediterranen Klima, das das Grün schon früh im Jahr üppig sprießen lässt. Schönstes Beispiel für die florale Pracht sind die Brissago-Inseln im Lago Maggiore, etwa dreieinhalb Kilometer von Ascona entfernt. Dort herrscht ein sogenanntes insubrisches Klima mit vielen Niederschlägen aber ebenso vielen Sonnenstunden. Die beiden Eilande haben mit Abstand das wärmste Klima der Schweiz. Von 1885 bis 1927 ließ die deutsch-russische Baronin Antoinette de Saint Léger eine Parkanlage mit subtropischen, exotischen Pflanzen anlegen. Als sie durch Spekulationen 1927 ihr Vermögen verlor, verkaufte sie die Inseln an den deutschen Warenhausmillionär und Kunstsammler Max Emden. 1949 gelangten sie an den Kanton Tessin, der eine der beiden Inseln 1950 als Botanischen Garten für jedermann zugänglich machte. Einen Tag dort zu verbringen gleicht einer Reise in eine andere Welt. Die Zeit vergeht hier in einem anderem Tempo.
Und wenn der Hunger einen daran erinnert, dass schon später Mittag ist, findet sich ein Plätzchen auf der zauberhaften Terrasse der neoklassizistischen Villa, die Max Emden dort erbauen ließ und die jetzt ein Restaurant beherbergt.
Quelle der Inspiration
Hermann Hesse hat das Tessin geliebt. In unzähligen Beschreibungen und auf Aquarellen hat er den Landstrich zu fassen versucht. Hier fand er die Quelle seiner Inspirationen, die sich in seinen Gedichten und Romanen niederschlug. Aber auch Stunden voller Müßiggang. Gern ging er zum Beispiel seinen „Goldenen Hügel“ herunter ans Wasser und schrieb: „Dieser Sommer ist von indischer Glut. Auch der See ist längst nicht mehr kühl, aber am Spätnachmittag weht jeden Tag ein Wind gegen unseren Strand, dann ist es Erfrischung, in den Wellen zu baden und dann nackt im Winde zu stehen. Um diese Zeit steige ich häufig den Berg hinab zum Strande. Manchmal nehme ich Zeichenblock und Wasserfarbe mit und Proviant und eine Zigarre, um den ganzen Abend dazubleiben.“
Wer sich wie er an einem der zahlreichen Seen des Tessins ein Plätzchen sucht, vielleicht auf einer hübschen Terrasse eines Restaurants, die direkt ans Wasser grenzt, wird die Faszination Hesses nachempfinden können.
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