Eine Frau beißt sich auf den Finger.

Sexuelle Fantasien von Frauen: "Viele sagen nur die halbe Wahrheit"

Mit ihrem Buch "Want" will Schauspielerin Gilian Anderson die Vielfalt erotischer Vorstellungen von Frauen aufzeigen.

Schauspielerin Gilian Anderson sammelte für ihr neues Buch "Want" sexuelle Fantasien von Frauen. Vor eineinhalb Jahren hatte sie dazu aufgerufen, ihr erotische Vorstellungen zuzusenden. Insgesamt habe sie Briefe im Umfang von 1.000 Seiten erhalten, schreibt sie im Vorwort der nun veröffentlichten Textsammlung. 

"Want" soll an Nancy Fridays "Die sexuellen Fantasien der Frauen" aus dem Jahr 1973 anknüpfen und einen Denkanstoß liefern, "damit wir in einen neuen Dialog über die sexuelle Kraft von Frauen treten können." 

Sie war überrascht, dass viele Frauen ihr Fantasien für sich behalten, sagte Anderson, die in der Serie "Sex Education" eine Sexualtherapeutin spielte. Warum das so ist, warum Paare ihre Vorstellungen miteinander teilen sollten und wie das gelingen kann, beantwortet Sexualtherapeutin Claudia Wille-Helbich im Interview mit dem KURIER.

Die meisten Frauen, die Briefe an Gillian Anderson geschickt haben, sagen, dass sie ihre Fantasien aus Scham und Schuldgefühlen nicht mit ihrem Partner teilen. Entspricht das Ihrer Erfahrung? 

Claudia Wille-Helbich: Ja. Frauen sind meist unsicher und vorsichtig, wenn es um ihre sexuellen Fantasien geht. Sie haben heutzutage viel mehr Fantasien als Männer. Die meisten Männer sind dazu nicht mehr fähig, weil sie zu sehr daran gewöhnt sind, sich ihre Erregung aus dem Internet zu holen. Allerdings stehen sie dazu, dass sie sich selbst befriedigen, während das bei Frauen oft nicht so ist – Frauen tun das eher im Geheimen. Daher ist einer der Gründe, warum eine Frau ihre Fantasien nicht erzählt, der, dass der Partner nicht einmal weiß, dass sie sich sexuell befriedigt. Man muss aber differenzieren zwischen Fantasien, die man zwar erregend findet, jedoch niemals umsetzen möchte, und Wünschen, die man tatsächlich erleben will. Eine Frau kann zum Beispiel die Vorstellung von Sex mit drei Männern sexuell erregend finden, ohne dass sie das jemals mit ihrem Partner umsetzen möchte.

Wollen Paare ihre sexuellen Fantasien überhaupt voneinander wissen?

Ich frage immer, ob die Paare gerne die Fantasien ihres Partners bzw. ihrer Partnerin wissen möchten. Die meisten sagen ja, erzählen aber nur die halbe Wahrheit. Bei Männern sind es meist Dinge, die sie sich im Internet anschauen, etwa Szenen aus Pornoclips. Oft erzählen sie aber nicht alles, weil sie ihre Frau nicht verschrecken möchten. Frauen sind hingegen oft unsicher, ob sie ihre Fantasien erzählen sollen, weil sie Angst haben, wie sie danach gesehen werden. Obwohl jeder Mensch in einer Liebesbeziehung die Sehnsucht hat, als der geliebt zu werden, wer er ist, inklusive den Abgründen, ist es sehr mutig, sich ganz zu zeigen – nicht nur in der Sexualität. Frauen sind oft ein bisschen vorsichtig. Wir leben schon noch in einer Welt, wo die Geliebte des Mannes schmutzig und versaut sein darf, aber die fixe Lebenspartnerin oder Ehefrau soll sich im Rahmen bewegen. Ein Grund dafür ist die Angst der Männer vor starken, lustvollen Partnerinnen. Zwar ist ein häufiges Thema der Paartherapie, dass der Mann oft derjenige ist, der sexuell aktiv ist, der auf die Frau zugeht, aber unbewusst ist er ganz froh, weil er sie nicht verlieren will. Frauen wissen das und spielen das mit. Sie zeigen nicht alles, damit er keine Angst hat, sie zu verlieren, wenn sie von Sex mit drei Männern fantasiert. 

Geht das auf Dauer gut?

Wenn ich will, dass mich mein Partner als Gesamtperson kennenlernt, sollte ich meine Fantasien mit ihm teilen, und nicht eine Rolle spielen, die der andere vielleicht von mir erwartet. Man will sich in der Sexualität im wahrsten Sinn des Wortes nackt zeigen, sich fallen lassen. Wenn zwei Menschen zusammenkommen, tasten sie sich die ersten Male aneinander heran, man einigt sich beim Sex sozusagen auf den kleinsten gemeinsamen Nenner und streicht vielleicht etwas, das ich mag, aber der andere nicht. Mit der Zeit wird das aber langweilig. Will man eine lebendige Sexualität haben, muss man mutig sein – man muss nicht weiß Gott was machen, aber man muss sich zeigen. Dazu zählt auch, an die Fantasien heranzukommen. Im Beispiel der Fantasie mit drei Männern kann es so sein, dass die Frau das nicht ausprobieren möchte, aber vielleicht will sie einmal in einen Swingerclub gehen und anderen dabei zuschauen.

In einem der Briefe steht, dass an Frauen so viele Erwartungen gestellt werden, dass die Briefschreiberin kaum noch weiß, ob sie etwas tatsächlich anturnt oder ob sie nur performt, was von ihr erwartet wird. 

Das ist tatsächlich die Regel. Leider tendieren Frauen auch in anderen Lebensbereichen dazu, Erwartungen zu erfüllen. Das gilt allerdings nur dann, wenn ich eine Liebesbeziehung habe, wenn mir dieser Mensch wichtig ist. Wenn mir der Mensch völlig egal ist, etwa, weil man sich ein Sexdate vereinbart, dann traut sich Frau echt zu sein. Das ist ein Dilemma, dem man nur mit radikaler Selbstakzeptanz entkommen kann. Unterstützen kann eine gute Therapie, die dazu dient, zu sich selbst zu stehen. Es hat sich aber sehr viel getan, auch durch die Sexpositiv-Bewegung gibt es immer mehr Menschen, die sich mit ihrer Sexualität auseinandersetzen, das ist eine sehr positive Entwicklung.

Im Vergleich zu den 1970ern, in denen das Buch von Nancy Friday erschienen ist, wird heute viel mehr über Sex gesprochen, er ist viel präsenter. Hat das auch Schattenseiten?

In den 70er Jahren kam es unter dem Schlagwort "Wir haben auch Orgasmen" zu einem Aufbruch in Richtung Frauen wollen auch Freude an Sexualität haben. Damals war die Überschrift "Du darfst, du kannst", heute ist es ein "Du musst". Die moderne, erfolgreiche Frau muss Lust auf Sex haben – nicht wie der Mann, der immer will und immer kann, aber sie soll proaktiv sein, den Mann verführen, wissen, was sie will. Mann und Frau müssen bis zum Tod Sex haben und dieser Sex muss wahnsinnig toll sein. Derartige Vorstellungen sind auch nicht angenehm. Viele Frauen schämen sich heute auch mehr, wenn sie ganz "normale" Fantasien haben, etwa Blümchensex mit ihrem eigenen Partner. Viele denken, dass sie verklemmt sind und dass sie eine außergewöhnlichere Fantasie haben sollten, aber das ist natürlich überhaupt nicht so. Es kann auch sein, dass sich eine Frau nicht traut, andere Fantasien zu haben.

Bestimmte Fantasien sind tabuisiert oder verboten – im Buch wurden etwa Fantasien von illegalen Handlungen von der Veröffentlichung ausgeschlossen.

Manche Fantasien, die stark erregen, und das betrifft Frauen wie Männer, sind sehr grenzwertig. Das können Dinge sein, die man nie leben möchte, aber die denjenigen, der diese Fantasie hat, quälen. Ein Klassiker ist die Vorstellung davon, dass Frauen oder Männer geschlagen oder dominiert werden. Manche fragen sich, woher das kommt, weil sie das eigentlich nicht wollen. Man kann Fantasien wie Träume verstehen - als emotionale Verdichtung in Form von Symbolen. Das bedeutet, die Handlungen sind nicht 1 zu 1 zu übersetzen, sondern als Bild von emotionalen Wünschen. Beispielsweise wenn ich eine Orgie fantasiere, kann das heißen, ich habe riesengroße Lust. Manchmal können Fantasien auch ein Bewältigungsversuch der Psyche sein, in meiner selbst erfüllenden Handlung bin ich Täter, Opfer und Zuseher zugleich. Mit diesem tieferen Verstehen können sich die Fantasien auch wandeln. 

Wie kann es gelingen, in einer Partnerschaft sexuelle Fantasien anzusprechen, wenn man sich davor scheut? 

Frauen hilft meist, zuerst mit Freundinnen darüber zu sprechen. Auch Bücher wie "Want" zeigen, wie andere Menschen ticken und welche Möglichkeiten es gibt. Wenn ich die Erfahrung mache, dass auch andere Fantasien haben und ich nicht alleine bin, muss ich keine große Angst davor haben, sie zu benennen. Gemeinsam mit dem Partner kann es helfen, wenn jeder einmal eine erotische Fantasie erzählt, es muss auch nicht die eigene sein, sondern es kann irgendeine sein. Man kann darüber reden, wie das für den anderen war und sich langsam vortasten, bis man bei den eigenen Lieblingsfantasien angelangt ist. 

Elisabeth Gerstendorfer

Über Elisabeth Gerstendorfer

Redakteurin Gesundheit, Wissen Studierte Psychologie und Soziologie in Wien. Journalistenkolleg des Kuratorium für Journalistenausbildung in Salzburg. Seit 2013 bei KURIER im Ressort Lebensart. Zuvor u.a. tätig für Presse, Schaufenster und Österreichische Ärztezeitung.

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