Fabelhafte Welt: Eine außergewöhnliche Maßnahme

Warum gewisse Weihnachtswünsche so wichtig sind, dass man dafür sogar übernatürlichen Beistand anrufen sollte.

Liebes Christkind,

ich weiß, dass ich zu alt bin, um Briefe an dich zu schreiben. Aber wie heißt es seit März 2020 ständig? Außergewöhnliche Zeiten erfordern außergewöhnliche Maßnahmen. Meine früheren Briefe an dich begann ich mit der Beteuerung, das Jahr über brav gewesen zu sein. Diese Lüge erspare ich uns, stattdessen möchte ich einen Wunsch äußern, dessen Erfüllung nicht nur mir zugute käme, sondern allen Menschenskindern. 

Liebes Christkind, bitte mach, dass wir alle nicht immer so schnell beleidigt sind. Der Bundespräsident könnte hinzufügen: Wir waren nicht immer so. Es ist noch nicht so lange her, da begegneten wir den Fahrfehlern anderer Verkehrsteilnehmer mit einem müden Schulterzucken, anstatt komplett auszuzucken. Wir akzeptierten abweichende Meinungen als abweichende Meinungen und sahen keinen Angriff auf die eigene Weltsicht in ihnen. Wir lachten über humoristische Texte und forderten nicht Publikationsverbote für die Verfasser. Wir suchten gemeinsam mit unseren Nachbarn Lösungen für die bröckelnde Gartenmauer und dachten nicht einmal daran, den Anwalt einzuschalten. Wir bestellten halt ein drittes Achterl, wenn der wahnhafte Onkel oder die esoterische Tante zu schwurbeln begann, anstatt die Familienfeier noch vor der Vorspeise zu verlassen oder überhaupt fernzubleiben. Zusammengefasst: Es war einmal vor gar nicht allzu langer Zeit, da akzeptierten wir die Taten, Worte und Gedanken anderer Menschen als anderer Menschen Taten, Worte und Gedanken, anstatt eine persönliche Kränkung in ihnen zu sehen, über die man sich erregen muss. Und zu diesem Zustand würde ich gern wieder zurück. BeLEIDigt sein, bedeutet zu leiden. Das Leben mit Humor und Gelassenheit zu nehmen, bringt Lachen und Leichtigkeit. Und das, liebes Christkind, brauche nicht nur ich, sondern wir alle, wahrscheinlich sogar du.

Vea Kaiser

Über Vea Kaiser

Vea Kaiser ist die Autorin der Nr.1-Bestseller „Blasmusikpop“, „Makarionissi“ und „Rückwärtswalzer“. Ihre Bücher wurden vielfach preisgekrönt und in mehrere Sprachen übersetzt. Die studierte Altphilologin lebt mit Familie am Wiener Stadtrand und schreibt für die freizeit die wöchentliche Kolumne „Fabelhafte Welt“.

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