Vea Kaiser

Fabelhafte Welt: Stammbuchalarm im Kindergarten

Zu welch überraschenden Erkenntnissen es führt, wenn sich der Nachwuchs mit Dingen beschäftigt, die man für ausgestorben hielt

Viele Dinge, die meine 90er-Jahre-Kindheit ausmachten, werden für meine Söhne nichts als Museumsartefakte sein: Tschisi-Eis, Festnetztelefone, CD-Spieler. Es gehört zum natürlichen Lauf der Welt, dass man sich an Zeugs nostalgisch erinnert, dessen Reiz oder gar Funktion dem Nachwuchs verborgen bleibt. So werde ich nie das Entsetzen in den Gesichtern meiner Eltern vergessen, als sie merkten, dass mir völlig schleierhaft war, wozu man beim Kassetten-Hören einen Bleistift braucht. Es gibt jedoch auch Elemente der eigenen Kindheit, die man für aus der Mode gekommen hält, nur um eines Tages festzustellen, dass sie in der Welt des Nachwuchses sehr wichtig sind. Stammbücher zum Beispiel. Ich dachte, dass diese keinen Platz hätten in dieser heutigen Zeit, in der man sich zur Kontaktaufnahme in Sozialen Netzwerken verbindet, Jugendliche einen unangekündigten Anruf als Belästigung empfinden und in vielen Haushalten weder Papier noch Stifte vorrätig sind.

Doch Stammbücher scheinen beliebter denn je. Mein Sohn ist zwei Jahre alt und der einzige in seiner Kindergartengruppe, der noch keines hat. In den letzten Wochen durften wir zwölf Stück ausfüllen. Wir sind mittlerweile ein eingespieltes Team: Bambino zeichnet etwas in das vorgesehene Feld, kreuzt seine Haar- und Augenfarbe an, diktiert mir, welche Speise aktuell die liebste ist, verewigt seinen Fingerabdruck und lässt mich den Rest ausfüllen. Und dann fragte ihn neulich eine Bekannte, ob er wisse, was denn die Arbeit der Mama sei. Mein Sohn brachte das aktuell bei uns aufliegende Freundschaftsbuch und sagte: "Das da!“ Diese Schriftstellerei, von der er ständig hört, bedeutet für ihn also: Linien beschreiben und dabei unter Stress stehen, zügig fertigzuwerden, um das Buch zeitnah abzugeben und nicht ewig liegenzulassen. Tja, stimmt eigentlich eh.

Vea Kaiser

Über Vea Kaiser

Vea Kaiser ist die Autorin der Nr.1-Bestseller „Blasmusikpop“, „Makarionissi“ und „Rückwärtswalzer“. Ihre Bücher wurden vielfach preisgekrönt und in mehrere Sprachen übersetzt. Die studierte Altphilologin lebt mit Familie am Wiener Stadtrand und schreibt für die freizeit die wöchentliche Kolumne „Fabelhafte Welt“.

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