"ÜberLeben": Selber selber schuld!
Laufen ist mein Antidepressivum.
Es ist noch nicht lange her, da drehte ich hier in der Wohnsiedlung gemütlich meine Laufrunden. Auf einem Balkon stand ein Mann in meinem Alter, mindestens 130 Kilo schwer, Bier und Zigarette in der Hand und schaute verächtlich auf mich herunter. Dann rief er mit lallender Stimme: „Selber schuld! Selber schuld!“
Ich gehe fast jeden Tag laufen, manchmal sogar zweimal am Tag. (Übrigens: Interessant, dass man sagt „Ich gehe laufen“. Heißt es in Deutschland „Ich laufe rennen“?) Die Liebe zum Laufen habe ich von meinem Vater geerbt, nicht aber dessen Talent: Er war als junger Mann einer der besten Mittelstreckenläufer Österreichs in seiner Altersgruppe. Ich trabe eher als ich laufe – je nach Tagesverfassung brauche ich sechs bis acht Minuten für den Kilometer, mein Vater war doppelt so schnell. Ich höre beim Laufen über Kopfhörer die Stones oder Iron Maiden und schau mir die Gegend an.
Ich laufe gerne, weil ich mich gerne bewege, es fühlt sich für mich gut und richtig an, zu laufen. Ich spüre die Sonne und den Wind, ich rieche die jeweilige Jahreszeit, ich mag es, zu schwitzen und meine Muskeln zu fühlen. Offenbar liegt das bei uns in der Familie: Meine Oma, die Mutter meines Vaters, hat als alte Frau oft erzählt: „Ich gehe in den Wald spazieren, und wenn niemand da ist, der mir zuschaut, dann jogge ich.“
Das Beste am Laufen ist aber: Es ist ein hoch wirksames Antidepressivum. Ich fühle mich beim Laufen wie ein anderer Mensch, fröhlich und leicht. Auf dem ersten Kilometer denkt es in mir auf Hochtouren, aber dann werden die Gedanken immer langsamer und weniger, und der Kopf wird frei. Und manchmal schreibe ich dann ganze Kolumnen, im Kopf, und lerne sie beim Laufen auswendig.
Ich schaue hinauf, zu dem 130-Kilo-Bier- und Zigaretten-Mann auf dem Balkon, der noch immer höhnisch zu mir herunter winkt und rufe zurück: „Selber selber schuld!“
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