Warum uns der Frühling manchmal Grenzen überschreiten lässt

Die Geschichte von Richter Alfred und seiner neu gewonnenen Freiheit. Ist es ein zu gewissenhaftes Leben, die innige Verbindung zu seinem Hund oder einfach nur der Frühling, der den Richter hier eine Grenze überschreiten lässt?

Durch das Schlafzimmerfenster drang der Gesang einer Amsel und Alfred bemerkte sofort die Veränderung des Lichts, als er kurz vor sieben aufgewacht war.  Nach einem schnellen Kaffee kramte er mit großer Freude den Trenchcoat hinten aus dem Kasten. Endlich war es wärmer geworden. Fanni saß erwartungsvoll neben der Wohnungstür und sprang an ihm hoch, als er die Leine vom Haken nahm. Fliederfarben, passend zum Halsband. 

Bereits als Kind wollte Alfred einen Hund haben, doch seine Eltern waren hart geblieben. Goldfisch, Wellensittich, Hamster, Meerschweinchen, Katze – die Haustiere wurden zwar immer größer, aber Alfred war nie zufrieden. Einen kleinen, schwarzen Pudel wollte er und sonst nichts. Das änderte sich auch nicht, als er älter wurde, und doch zögerte er: Ein Jus-Student mit einem kleinen Pudel könnte zu Missverständnissen führen, schließlich wollte er irgendwann auch eine Frau kennenlernen. 

Während des ersten Lockdowns kauften sich viele Menschen Hunde. Man war einsam, durfte ohne Grund nicht raus und hatte keine regelmäßigen Arbeitszeiten, das perfekte Setting für einen Hund. Mindestens die Hälfte davon landete ein paar Wochen später im Tierheim, Alfred durfte gar nicht an diese armen Geschöpfe denken. Bei ihm war es anders, schließlich hatte er sich sein ganzes Leben auf diesen Hund vorbereitet.

Seinen Beruf als Richter fand Alfred viele Jahre interessant, doch seit einiger Zeit spürte er eine große Müdigkeit, wenn er an die Arbeit dachte. Und so war er nach langen Homeoffice-Wochen in Altersteilzeit gegangen, das geringere Gehalt war ihm egal. Sollten doch die jungen, engagierten Kollegen die Stapel der liegen gebliebenen Fälle abarbeiten, er wollte jetzt endlich seinen Hund, und für den brauchte er Zeit. Und die hatte er: Seine Frau Marianne war nach fünfundzwanzig Ehejahren irgendwo auf der Strecke geblieben und auch Sophie kam selten vorbei, seit sie in Graz studierte. 

Am 13. April 2020 zog das kleine, schwarze Bündel bei ihm ein. Nie würde er den Tag vergessen. In einer Hand konnte er den Welpen die Stiegen runtertragen, um ihn in die Grünfläche vor sein Haus zu setzen. Fanni war sein Ein und Alles, er konnte es gar nicht verstehen, wie er so lange ohne dieses Geschöpf hatte leben können. Und auch sie schien die Liebe zu erwidern: Er war der Mittelpunkt ihres Lebens, ihre Sonne und ihr Mond.

Der Hund hatte aber nicht nur Freude und Heiterkeit in sein Leben gebracht, er zwang ihn auch, seine Wohnung bei jedem Wetter zu verlassen. Und seltsamerweise machte es Alfred nichts aus. Nie war es ihm zu nass, zu kalt, zu windig, zu heiß, er genoss jede Art von Wetter. Doch am liebsten war ihm der Frühling, da fühlte er sich wie ein Sechsjähriger, dessen Glück mit dem längeren Tageslicht einherging. 

An der Straßenbahn-Endhaltestelle ging er noch ein paar Minuten, dann ließ er Fanni von der Leine und sie rannte wie ein kleiner, schwarzer Pfeil über die große Wiese, jagte eine Krähe und wälzte sich im frischen Gras. Mit der Straßenbahn mitten in den Wald, das macht uns keine Metropole nach, dachte er jedes Mal, wenn er in den 43er stieg. Das Polizeifahrzeug bewegte sich auf der kleinen asphaltierten Straße zwischen den beiden Waldstücken im Schritttempo auf ihn zu, der Fahrer ließ in betonter Lässigkeit den Arm aus dem offenen Fenster hängen. 

„Ihrer?“ fragte er und deutete auf den kleinen, schwarzen Fleck, der gerade im Unterholz verschwand. „Sieht so aus.“ – „Sie wissen schon, dass frei laufende Hunde verboten sind?“ – „Natürlich weiß ich das.“ – „Ausweis bitte.“ Beide Polizisten waren ausgestiegen und postierten sich vor Alfred. Er hielt ihnen den Richterausweis vor die Nase. „Aber Herr Rat“, der Beamte stutzte und gab ihm den Ausweis zurück. „Das geht doch nicht, das müssen Sie wissen!“ – „Natürlich weiß ich das, aber ich sag Ihnen was: Es ist mir egal! Und Bußgeld zahl ich auch keines.“ – „Wie meinen Sie das?“ – „So, wie ich es gesagt hab. Ich zahle nicht.“ – „Dann müssen wir die Sache leider zur Anzeige bringen.“ – „Machen Sie ruhig, machen Sie ruhig.“ – „Aber das ist doch Unsinn? Jetzt leinen Sie Ihren kleinen Hund an und wir vergessen das Ganze.“  – „Sicher nicht! Sie machen sich ja auch strafbar! Ich kann Sie bei Ihrem Vorgesetzten anzeigen.“

©Montage Bartosz Chudy,istockphoto,Franz Gruber

Alfred lächelte sie an und schwenkte die Leine ein wenig hin und her. Da drehte sich der Beamte zu seinem Kollegen und deutete mit dem Kopf Richtung Streifenwagen. Wie auf ein geheimes Kommando stiegen beide ein und fuhren langsam davon.  
Ein ganzes Leben hatte er sich an sämtliche Gesetze gehalten, Steuern bezahlt, war nie zu schnell gefahren, hatte niemals alkoholisiert auch nur ein Fahrrad gelenkt und sich während der letzten zwei Jahre an jede Verordnung gehalten: Ausgangssperren, Maske, Abstand, Impfungen, Tests, einfach alles! Das war auch kein Problem für ihn, wer, wenn nicht er, wusste, wie wichtig Regeln für eine Gesellschaft sind. Aber das ging nun wirklich zu weit! Seinem geliebten Hund die Freiheit zu nehmen, da würde er einfach nicht mehr mitspielen. Knospen sprießten aus den Ästen, Bärlauch bedeckte den Boden, und überall zwitscherte und zirpte es. Fanni wühlte in einem Maulwurfshügel und Alfred folgte ihr ins Dickicht.

Zur Person

Petra Hartlieb bedient unterschiedliche Genres –  vom Krimi bis zum historischen Roman. Zuletzt erschienen ist „Herbst in Wien“ (2021), der letzte Band des Romanzyklus über Arthur Schnitzler  und    Anna, die im ersten Band als Kindermädchen im Haus des Dramatikers arbeitet. Bekannt ist Hartlieb auch für das Zusammenspiel ihrer Autorschaft und der eigenen Buchhandlung.

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