„Über dem Boden schweben“ - Kunst von Valie Export bis Schiele

„Wenn ich wüsste, was Kunst ist, würde ich es für mich behalten“, meinte Pablo Picasso. Aber was ist die Antwort darauf?

Seit ich, dem Gymnasium entflohen, die Kärntner Pop-Art-Künstlerin Kiki Kogelnik in New York besuchte, frage auch ich mich, was Kunst ist. 1969, in jenem Jahr der Mondlandung, in dem Andy Warhol mit seiner Polaroid Präsidenten, Pornodarsteller und Rockstars fotografiert und Interview gründet. Jenes Kultmagazin, das bald das künstlerische Leben New Yorks prägt. Warhol interviewt Celebrities wie John Lennon und Grace Jones, Max Ernst und Truman Capote in einem neuen, intimen Stil und dokumentiert damit minutiös ihr Leben. Während Kiki und ich durch Manhattan ziehen, sehe ich Warhol über die 5th Avenue schlendern. In bodenlangem Ledermantel, mit der größten Sonnenbrille, die ich jemals gesehen habe.

Inzwischen sind mehr als 50 Jahre vergangen, dass ich mit Kogelnik den New Yorker Ausflug machte, meine erste Begegnung mit moderner Kunst hatte. Längst haben sich die Gesellschaft und der Kunstbetrieb verändert. Die Konzeptkünstlerin Marina Abramovic definiert es so: „Die Aufgabe des Künstlers in einer gestörten Gesellschaft besteht darin, Bewusstsein für das Universum zu schaffen, die richtigen Fragen zu stellen und den Geist zu heben.“

Abramovic sucht neue Wege in der Kunst, sorgt mit ihren körperlichen Inszenierungen für Aufruhr. Sie will schockieren und geht bei ihrer extremen Body-Art oft an physische und psychische Grenzen. Es sind strapaziöse und gefährliche Darbietungen, um – oft mit Beteiligung des Publikums – die Auswirkungen von Sinnesempfindungen zu erkunden. Wie in Neapel 1974: Jemand ritzt mit einer Rasierklinge ihre Kehle, um das Blut abzulecken. Sexuelle Berührungen finden statt, eine geladene Pistole landet am Kopf der sich stoisch gebenden Künstlerin. Sie beschreibt die Erfahrungen ihrer Aktion: „Ich fühlte mich geschändet. Was ich lernte war, wenn du alles dem Publikum überlässt, kann es dich töten. Nach exakt sechs Stunden schritt ich auf das Publikum zu. Alle rannten weg. Um einer tatsächlichen Konfrontation zu entfliehen.“

Was Kunst bedeutet

Wodurch behauptet sich eine Künstlerin oder ein Künstler am überhitzten Kunstmarkt? Welche eigenwilligen Mechanismen dominieren diesen? Welche Voraussetzungen müssen Menschen haben, um künstlerisch zu reüssieren? Bestimmt wirklich die Kunst selbst den Marktwert mit Millionenpreisen – oder ist vor allem forciertes Marketing entscheidend?

Weltweit erregt die 92-jährige Japanerin Yayoi Kusama, die seit 45 Jahren in einer psychiatrischen Anstalt lebt, mit ihren Werken aufsehen. Wie mit phallischen Figuren oder Kürbissen, die sie mit Punkten verziert und bis zu fünf Millionen Dollar dafür erhält. Seit Jahrtausenden versuchen Künstler zu definieren, was Kunst für sie bedeutet: Für El Greco ist sie „überall dort, wo du danach suchst; lobe die blinkenden Sterne, denn sie sind Gottes unbekümmerte Kleckse“. Edgar Degas erklärt: „Kunst ist nicht etwas, das du heiratest. Es ist etwas, das du vergewaltigst.“ Für Marcel Duchamp, einen der Gründerväter der Moderne, ist „Kunst eine Täuschung, eine Lotterie“.

Provokant: Die Aktionistin VALIE EXPORT schleift 1968 den Künstler und Lebensgefährten Peter Weibel an einem Hundehalsband durch die Wiener City

©Verlag Molden/Peter Weibel

Unbeantwortete Fragen Fast ein halbes Jahrhundert später Aufruhr während einer Versteigerung in London: Das Werk des Graffiti-Sprayers Banksy Girl with Balloon wird zerstört. Kurz nachdem bei Sotheby’s das letzte Gebot eingeht, zerstückelt sich das Bild selbst: Ein im Rahmen versteckter Schredder zerschneidet das Motiv zur Hälfte. Übrig bleiben Schnipsel. Die Aktion hat die Spekulationen rund um den britischen Meister der Street Art und seine Identität aufs Neue entfacht: Wer verbirgt sich hinter dem Straßenkünstler? Seit mehr als 25 Jahren bleibt diese Frage unbeantwortet. Bekannt wird Banksy durch seine gesellschaftskritischen Motive. Seine Kunst will Krieg, Faschismus und übermäßiges Konsumverhalten kritisieren.

Auch große Österreicherinnen und Österreicher kämpfen seit jeher um Anerkennung und ihren persönlichen künstlerischen Weg: Vom exzessiven Enfant terrible Egon Schiele bis zu den Körpergefühlsbildern der Maria Lassnig, von Adolf Loos, dem provokanten Wegbereiter der modernen Architektur, bis zu Friedensreich Hundertwasser, dem kitschigen Meister der Fantasie.

"Woman Power“ von Maria Lassnig – ein Bild als schonungslose Reise nach innen, 1979

©Verlag Molden/Albertina Wien/The Essl Collection

Von den Architekten Coop Himmelb(l)au, die gegen die Zukunft der Trostlosigkeit kämpfen, bis Franz West, der mit Pappmaché, Polyester und Performance den Kunstbetrieb schockiert. Von Alfred Kubin in seinem düsteren Zwischenreich der Seele bis zum manischen Farbenrausch des Über-Malers Arnulf Rainer. Von VALIE EXPORT und ihrem kritischen Stachel des Feminismus bis zum großen europäischen Expressionisten Oskar Kokoschka. Von Erwin Wurm und seinen skurrilen, surrealen Skulpturen bis zu Menschen, bei denen Kunst als Therapie eingesetzt wird – Art Brut zwischen Genialität und Wahnsinn. In Gugging, im „Haus der schlafenden Vernunft“.

Aktion der Architektengruppe Haus-Rucker-Co auf der Wiener Gloriette, 1972 mit Blasmusik und Mega-Seifenblase 

©Verlag Molden/Michael Horowitz

All diese Künstlerinnen und Künstler haben weit über die Grenzen des Landes für Furore gesorgt. Und – wie John Lennon-Muse Yoko Ono meint – mit Kunst versucht, „einen halben Zentimeter über dem Boden zu schweben.“

„Kunst aus Österreich.   50 Menschen, die das 20. Jahrhundert prägten“. Von Michael Horowitz. Molden Verlag, 35 €

©Verlag
Michael Horowitz

Über Michael Horowitz

Gründer des KURIER-freizeit-Magazins sowie des Gastro-Guides „Tafelspitz“, und war rund 25 Jahre lang dessen Chefredakteur. Fotograf, Journalist, Autor. Verfasste insgesamt mehr als 20 Bücher, darunter Biografien über H.C. Artmann, Otto Schenk und Helmut Qualtinger. Schrieb auch Drehbücher, unter anderem für den bei den Filmfestspielen in Cannes 1989 mit dem „Prix de la Jeunesse“ ausgezeichneten Kino-Film „Caracas“.

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