Pärchen, das sich küssen will

Pornowissenschafterin Madita Oeming über Tabus, Penisse, Jugendschutz

Für die deutsche Pornowissenschafterin Madita Oeming sind Pornos ein Spiegelbild der Gesellschaft und ein Spiel mit Tabus – was die Expertin von Pornofiltern hält und Eltern von Teenagern rät.

Jede Minute besuchen weltweit rund 100.000 Menschen die Seite pornhub.com, die als eine der ersten Pornoseiten in den Top 10 der meistbesuchten Websites landete. Im August belegte Pornhub Platz 12 in Österreich – noch vor Twitter, Amazon oder gmx. In Deutschland geben 96 Prozent der Männer und 79 Prozent der Frauen zwischen 18 und 75 Jahren an, schon einmal Pornos gesehen zu haben.

Die Kulturwissenschafterin Madita Oeming will Pornos "neu denken": Im Interview mit dem KURIER erklärt die Deutsche, warum Pornos Inszenierung sexueller Fantasien, aber keine Anleitung für Sex sind.

 

Sie haben Ihr Buch "allen gewidmet, die sich noch schämen" – auch in Ihrem Buchtitel versteckt sich der Begriff Scham. Warum ist dieses Stückchen Alltagskultur im Jahr 2023 noch immer mit Scham behaftet?
Es ist zwar eine alltägliche Praxis, aber eine, die wir meistens alleine ausüben. Anders als bei Serien oder Kinofilmen ergibt sich also nicht automatisch ein Austausch beim kollektiven Anschauen.  Dank des Internets sind wir ja nicht einmal mehr mit Situationen wie etwa früher in der Porno-Videothek konfrontiert. Wir müssten ein Gespräch darüber schon aktiv suchen. Und das kostet Überwindung. Wir haben sowieso nicht gelernt über Sex zu sprechen, als Gesellschaft.  Und bei Pornos kommt noch eine Schippe Scham oben drauf. Denn hier geht es um Fantasien. Und die sind meist extremer, normverletzender als unsere gelebte Sexualität. Was uns im Porno erregt, passt oft nicht mit unseren Werten, unserem Selbstbild zusammen. Erst Recht in der Anonymität des Internets nutzen wir teilweise Inhalte, die uns gewissermaßen schon peinlich vor uns selbst ist. Nicht auszudenken, andere würden von dem Stiefmütter-Video, den Pisse-Spielchen oder dem Tentakel-Porno erfahren, der uns so erregt. Viele Menschen haben Angst vor Abwertung und behalten ihre Pornofantasien für sich. Das ist ein Teufelskreis, denn wenn wir nicht darüber reden, können wir auch nie herausfinden, dass wir mit unseren vermeintlich "komischen" Fantasien eigentlich gar nicht allein sind. 
Können Sie sich an Ihren ersten Porno erinnern?
Nicht konkret. Aber ich erinnere mich an diese Mischung aus Faszination und Überforderung. Gleichzeitig angezogen und abgestoßen zu sein. Darüber lese ich heute oft in Befragungen von Jugendlichen und kann das zu 100 Prozent nachvollziehen. Auch das gemeinschaftliche Anschauen mit Gleichaltrigen, das dort oft benannt wird, erinnere ich gut. Der Gruppenzwang. Das Kichern. 300 komplexe Gefühle und Ängste. Pubertät ist einfach hart!

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Madita Oeming will Pornos "neu denken"

©ANNA PESCHKE/Linden Shots
Sie sind über den Roman Moby Dick an die Porno-Wissenschaften herangekommen: Wie kam es dazu?
Ich saß an einer Seminararbeit zu der Bedeutung des Romans in der Bildenden Kunst und stolperte bei meinen Recherchen immer wieder über Pornos. Klar, dachte ich, flaches Wortspiel halt, ‚dick' für ‚Penis’, und habe es ignoriert. Doch dann war da dieses eine Vorschaubild mit einer nackten Pornodarstellerin im Gartenstuhl, in ihrem Schoß nur dieses Buch. Das hat mich neugierig gemacht. Ich klickte das Video an und boom! In meinem Kopf überschlugen sich sofort die Fragen: Sollte das lustig sein? Und war es dann nicht eher kontraproduktiv für die Erregung? Wer war das Zielpublikum, wenn angenommen wurde, dass es die kulturellen Referenzen versteht? Wer hatte diesen Film gemacht und mit welcher Intention? Es war es das erste Mal, dass ich im wissenschaftlichen Analysemodus einen Porno angeschaut habe. Und da wurde mir schnell klar, dass ich alle Fragen und Werkzeuge, die ich im Studium der Literatur- und Kulturwissenschaften an Romane, Songs, Serien oder Hollywood-Filme angewandt hatte, natürlich auch auf Pornos übertragen kann. Ich hatte zwar schon lange privat Pornos geschaut, aber sie nie als Medientexte verstanden, nie reflektiert. Ich war komplett angefixt und seit diesem Aha-Moment hat mich das Thema Porno intellektuell nicht mehr losgelassen.
Wie viele Pornos haben Sie – geschätzt – schon angeschaut?
Puh, das kann ich unmöglich schätzen. Aber ich schaue jetzt seit fast 10 Jahren beruflich Pornos und seit mindestens 20 Jahren privat. Da sind schon einige zusammen gekommen… und trotzdem ist das nur ein Bruchteil von dem riesigen Ozean an Pornos, die es gibt.
Bei den Konsum-Daten fällt auf, dass sich die Angaben von Männern generationenübergreifend nur geringfügig unterscheiden, während deutlich mehr Frauen in der Altersgruppe der 18- bis 30-Jährigen Pornos schauen als ältere Frauen. Überrascht Sie das?
Nicht wirklich. Gerade in den letzten 5 bis 10 Jahren hat sich viel getan in Sachen weiblicher Sexualität beziehungsweise der öffentlichen Unterhaltung darüber. Es gibt mehr und mehr Sex Toys, Abbildungen von Vulven oder Klitoris-Modelle werden immer sichtbarer, sexpositiver Feminismus ist über die sozialen Medien auf dem Vormarsch. Das Bewusstsein für Frauen als lustvolle Wesen wächst. Zudem ist „Feministischer Porno“ medial viel präsenter geworden und beispielsweise Audio Porno wird gezielt an Frauen vermarktet. Je mehr wir von masturbierenden, und eben pornoschauenden Frauen hören, desto eher erlauben wir es uns auch selbst. Frauen haben ja nicht von Natur aus weniger Lust auf Pornos, sondern haben kulturell einfach nicht gelernt, sexuelle Wesen sein zu dürfen – fernab von Reproduktion, Beziehungsarbeit und der Bedürfnisbefriedigung von Männern
Sehen wir heute gleichberechtigten Sex im Mainstreamporno?
Das ist eine sehr komplexe Frage. Erst einmal gibt es nicht „den Porno“. Selbst der Mainstreambereich ist ja ein riesiger Markt mit vielfältigen Inhalten. Sehr beliebt sind ja zum Beispiel vermeintliche „Lesben“-Pornos. Geschlechterungerechtigkeit wird dort wohl kaum abgebildet, wenn nur Frauen zu sehen sind. Das Gleiche gilt für das große Genre der Schwulenpornografie, in der gar keine Frauen auftreten. Im hetero Porno wird oft mit Machtdynamiken gespielt. Frauen nehmen hier häufig einen submissiven Part ein. Deshalb würde ich trotzdem nicht von ungleichberechtigtem Sex sprechen. Zudem erfreut sich auch FemDom Porno, also die Inszenierung weiblicher Dominanz, enormer Beliebtheit. Und MILFs (= Mom I’d like to Fuck), die meist den Ton angeben und über ihre sexuelle Erfahrenheit reizvoll werden, gehören zu den Top-Kategorien. Ganz grundsätzlich halte ich es aber auch nicht für die Aufgabe von Pornos, gleichberechtigten Sex zu zeigen. Pornos sind Fiktion, Übertreibung, das Spiel mit dem Tabu, eine Fantasiespielwiese. Wir können sie nicht in die Verantwortung nehmen, uns gesunden Sex auf Augenhöhe beizubringen.
Für Sie waren Pornos ein elementarer Teil Ihrer "feministischen Erweckung"?
Absolut. Zum einen, weil sie ein wichtiges Hilfsmittel waren, mir meine Lust zu erlauben. Schreiende, schwitzende Frauen im Porno haben mich ein Stück weit befreit. Sie scheinen außerhalb von gesellschaftlichen Normen und Gendererwartungen zu existieren. Das habe ich bewundert. Auch die verschiedenen Körper haben mir geholfen, vor allem bei meiner eigenen Vulva-Akzeptanz. Aber wichtig war für mich vor allem die Auseinandersatzung damit, die Debatten über Porno und Sexarbeit. Gerade auch die innerfeministischen. Ich habe gelernt, mich zu positionieren, Ambivalenzen auszuhalten. Habe verstanden, dass es „den“ Feminismus nicht gibt. Herausgefunden, welche Kämpfe mir am Herzen liegen. Und bin immer lauter und sicherer im Einstehen für sexuelle Freiheit geworden.
©Rowohlt Verlag
Sie sagen, Ihr Buch ist Ihr Megafon: Warum müssen wir über Pornos sprechen?
Pornos sind eine weit verbreitete Medienpraxis. Wir sollten verstehen, warum, was wir darin suchen und finden, was das mit uns macht. Auf individueller Ebene finde ich es wichtig, um Menschen von den unnötigen Schuldgefühlen zu befreien, die viele mit sich rumtragen. Sie halten sich für „nicht normal“, obwohl sie genau das sind. Das steht auch einem Ausschöpfen der positiven Potentiale von Pornos im Weg. Gerade auch für Partnerschaften. Gesamtgesellschaftlich finde ich es essentiell, über Pornos zu sprechen, weil derzeit sowohl in puncto Sexarbeit als auch beim Jugendschutz eine fehlgeleitete Politik betrieben wird, die auf Fehlannahmen und Ängsten beruht. Zudem würde die Entstigmatisierung von Pornos zu besseren Arbeitsbedingungen innerhalb der Industrie beitragen. Schon allein, wenn mehr Menschen für ihre Pornos bezahlen.
Oft hört man das Argument, Frauen würden sich ausgefeilte Geschichten und Romantik in Pornos wünschen: Woher kommt diese Annahme und lässt sich diese mit Daten überhaupt untermauern?
Die Idee von Frauen als Romantikerinnen, die Sex nur in Zusammenhang mit Liebe und Familiengründung suchen, ist ein altes. Das kommt aus einem bürgerlichen Ideal weiblicher Tugenden, das sich hartnäckig bis heute hält. Und eben auch auf Pornos übertragen wird: Wenn Frauen überhaupt zugestanden wird, Pornos zu nutzen, natürlich nur auf der Suche nach Zärtlichkeit und stilvoller Erotik. Die Klickgewohnheiten auf Pornoportalen erzählen eine gänzlich andere Geschichte. Frauen suchen hier genauso oft nach „Hardcore“- Inhalten wie Gangbangs, Doppelpenetration oder Fesselspielen. Wie in so vielen anderen Bereichen, gilt auch bei der Pornonutzung: Die individuellen Unterschiede sind viel größer als die Geschlechterunterschiede.
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Ein Merkmal von Pornos ist, dass sie nackte Körper sehr detailliert zeigen: Kann so ein Druck entstehen, wie Frauen und Männer auszusehen haben?
Alle Bilder von Körpern können diesen Effekt haben – ob auf Instagram, im Fernsehen, in der Werbung, oder eben in Pornos. Wie empfänglich man für diese Form des sozialen Vergleichs ist, hängt meist von dem Körperbild ab, das wir schon mitbringen. Menschen neigen also unterschiedlich stark dazu, sich mit anderen zu vergleichen und dann minderwertig zu fühlen. Die Vielfalt an Körpern ist im Porno allerdings größer als beispielsweise in Hollywood. Pornos sind gerade für marginalisierte Menschen, wie trans Personen oder Menschen mit Behinderungen, oft der erste und einzige Ort, wo sie sich als sexuell begehrenswerte Wesen inszeniert sehen. Am größten würde ich die Gefahr für Körperdruck eigentliche bei der Penisgröße einschätzen, da hier sehr wenig Varianz im Porno zu sehen ist und die Diskrepanz zum Durchschnittspenis groß ist. In Studien zeigt sich aber kein signifikanter Zusammenhang zwischen Pornonutzung und Penisunzufriedenheit. Vermutlich ist das Wissen darüber, dass gerade Menschen mit überdurchschnittlich großen Penissen in der Pornowelt Erfolg haben, ausreichend etabliert. Wir vergleichen unsere Bolzqualitäten ja auch nicht mit Profifußballern.
Das Alter vom Erstkontakt mit Pornos hat sich laut Umfragen verringert, er liegt bei 14 Jahren: Was raten Sie Eltern von Teenagern? Oder anders gefragt: Muss Eltern überhaupt etwas geraten werden?
Ich rate Eltern, das Thema ernstzunehmen, aber nicht in Panik zu geraten. Die von den Medien oft alarmierend ausgerufene, völlig sexuelle verwahrloste "Generation Porno" lässt sich nirgends erkennen. Zahlen zu Jugendsexualität zeigen, dass Jugendliche heute später Sex haben und sicherer verhüten als noch von zehn Jahren. Trotzdem finde ich es problematisch, dass wir Jugendliche mit ihren ersten Pornoerfahrungen völlig allein lassen. Nur vier Prozent von ihnen geben an, sich mit einer erwachsenen Person darüber ausgetauscht zu haben. Dabei könnte eine Einordnung von Seiten von Eltern oder Lehrkräften hilfreich sein. Ich wünsche mir von Eltern, dass sie wertfreie Gesprächs- und Reflexionsangebote für Teenager zum Thema Porno schaffen. Ohne deren Privatsphäre zu missachten oder Scham zu reproduzieren. Vermitteln, dass die Neugierde auf Pornos genauso normal ist, wie das Überforderungsgefühl damit. Und erklären, dass Pornos keine Anleitung für Sex sind, sondern ein Unterhaltungsmedium.
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Braucht es vorinstallierte Filtersysteme, sogenannte Pornofilter, um Pornos für Jugendliche zu blockieren?
Jein. Es ist sicherlich ein sinnvollerer Ansatz als repressive Netzsperren oder datenschutztechnisch fragwürdige Altersverifikationen. Aber ich halte es für unmöglich, Jugendliche gänzlich von pornografischen Inhalten abzuschotten. Und halte es für gefährlich zu denken, dass damit erfolgreicher Jugendschutz erledigt wäre. Meiner Meinung nach brauchen Jugendliche vor allem eins: Bildung. Zum einen lustfreundliche und queerinklusive sexuelle Bildung, damit sie die Antworten auf ihre Fragen nicht in Pornos suchen müssen. Zum anderen konkrete Bildungsangebote zum Thema Porno im Sinne von Pornokompetenz-Vermittlung, damit sie die Inhalte, die sie sehen, einordnen und als Fiktion identifizieren können

Historische Fakten

Pornografie
Im Altgriechischen bedeutet der Begriff „Darstellungen von Sexarbeitern“

Liebesakt
Die 10.000 Jahre alten steinernen Liebenden von Ain Sakhri aus Bethlehem, die westchinesischen Kangjiashimenji-Felsbilder von Gruppensex aus der Bronzezeit und die frühsteinzeitlichen Frauenfigurinen wie die Venus von Willendorf gehören zu den frühesten Beispielen

1976 Pornografiegesetz
Hans S., der ein Fachgeschäft für Ehehygiene betrieb, wurde wegen Verstöße gegen die Sittlichkeit verurteilt. Der OGH schloss sich seiner Nichtigkeitsbeschwerde an, damit kam es nach der "Kleinen Strafrechtsreform" von 1971 zu einer Entmoralisierung

Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive: Wenn Sie einen einzige Porno empfehlen würden, welcher wäre das?
Das ist schwierig. Jeder Porno ist kulturwissenschaftliche interessant. Ich schaue in Seminaren oft den Film Trinity von der australischen Filmemacherin Ms Naughty. Hier kann man in kurzer Zeit viele Aspekte davon entdecken, was den Ansatz feministischer Pornografie ausmacht. Auch die Gangbangs von Hardwerk sind ein spannender Analysegegenstand, um zu verstehen, wie in als patriarchal verschrienen Praktiken emanzipatorisches Potential stecken kann. Frühe Pornos aus den 70ern finde ich zudem aufschlussreich, um über historische Unterschiede und Kontinuitäten nachzudenken.

Buch-Tipp: Madita Oeming, "Eine unverschämte Analyse", Rowohlt Verlag. 256 Seiten. 21,50 Euro

Anita Kattinger

Über Anita Kattinger

Leidenschaftliche Esserin. Mittelmäßige Köchin. Biertrinkerin und Flexitarierin. Braucht Schokolade, gute Bücher und die Stadt zum Überleben. Versucht die Welt zu verbessern, zuerst als Innenpolitik-Redakteurin, jetzt im Genuss-Ressort.

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