"Die Scham": Franzi Kreis entwickelt Details aus Negativen - und Friederike Tiefenbacher leistet als Ich-Erzählerin Erinnerungsarbeit

Die Dunkelkammer als Fotolabor: „Die Scham“ von Annie Ernaux

Ed. Hauswirth dramatisierte für das Volkstheater das Buch der Nobelpreisträgerin und lässt in Analogie zum Text Bilder entwickeln

Mitunter ist einem das Glück hold: Am 6. Oktober wurde bekannt, dass Annie Ernaux den Literaturnobelpreis erhält – und am 29. Oktober gelangte, lange geplant, in der Dunkelkammer des Volkstheaters eine Dramatisierung der Erzählung „Die Scham“ zur Uraufführung.

In diesem Buch rekonstruiert die Autorin, Jahrgang 1940, aus Fotos und Erinnerungsfetzen das Ende der Kindheit, als sie sich viel zu schämen hatte – über ihren Körper und ihre soziale Herkunft. Ausgangspunkt bildet ein Ereignis im Juni 1952, über das sie in keiner ihrer Welten, weder in Yvetot noch in der katholischen Schule, sprechen konnte: Ihr Vater soll nach dem sonntäglichen Mittagessen versucht haben, ihre übel gelaunte Mutter mit der Axt zu erschlagen.

In seiner konzentrierten Umsetzung hielt sich der Grazer Regisseur Ed. Hauswirth penibel an die Übersetzung. Er achtete zudem auf die äußeren Umstände. Das Buch erschien in Frankreich 1997; damals war Ernaux 57 Jahre alt – und die Welt noch nicht digital. Verkörpert wird die Autorin von der jetzt 57-jährigen Friederike Tiefenbacher in zeitlosen Jeans: Die Schauspielerin dringt immer tiefer in das verschüttete Damals vor – und spricht die Gedanken in ein Diktafon.

Ergänzt wird die rund 80-minütige Erinnerungsarbeit durch eine Performance, die aus der „Dunkelkammer“ tatsächlich eine macht: Die Fotografin Franzi Kreis projiziert mit dem Vergrößerungsapparat Porträts eines Mädchens, entstanden mit einer analogen Mittelformatkamera, auf großformatiges Fotopapier – und lässt vor den Augen aller nur jene Teile sichtbar werden, die sie mit Entwicklerflüssigkeit bepinselt. Man sieht ihr fasziniert zu, ist fast zu viel vom Text abgelenkt. Denn mit der Zeit verschwinden die Details wieder: Die Positive werden schwarz.

Thomas Trenkler

Über Thomas Trenkler

Geboren 1960 in Salzburg. Von 1985 bis 1990 Mitarbeiter (ab 1988 Pressereferent) des Festivals „steirischer herbst“ in Graz. Seit 1990 freier Mitarbeiter, von 1993 bis 2014 Kulturredakteur bei der Tageszeitung „Der Standard“ in Wien (Schwerpunkt Kulturpolitik und NS-Kunstraub). Ab Februar 2015 Kulturredakteur beim “Kurier” Kunstpreis 2012 der Bank Austria in der Kategorie Kulturjournalismus für die Recherchen über die NS-Raubkunst seit 1998 und die kontinuierliche Berichterstattung über die Restitutionsproblematik (Verleihung im Februar 2013).

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