Warum die Wiener Stadt wie ein Lebewesen ist
Was man auf einem Weg von 3.000 Schritten von Schönbrunn nach Meidling alles erleben kann.
Ich gehe durch den Schönbrunner Schlosspark, besuche die Gloriette und schenke mir den niemals gleichen Blick über die Stadt. Die Stadt ist ein Lebewesen. Sie verändert sich, wächst in die Breite und, besonders sichtbar, in die Höhe. Manche der neuen Türme kommen mir vertraut vor, während andere Häuser, die schon seit Jahrzehnten in Betrieb sind, einen schüchternen Eindruck machen, als wollten sie nicht stören.
Ich verlasse den Schlosspark über die Tivolibrücke, dort wo sich spritzertrinkende Nachbarn beim Alt-Wiener Würstlstandl „Zum Imperator“ treffen. Dann gehe ich die Hohenbergstraße entlang bis zur erstaunlichen Kirche Gatterhölzl, biege in die Schwenkgasse ein und verlaufe mich absichtlich zwischen den Gemeindebauten, die hier in allen möglichen Zuckerlfarben angemalt wurden und mir den Weg ins Innere von Meidling weisen. Ende des 19. Jahrhunderts befand sich hier ein städtischer Schlachthof für Pferde, eine zweireihige Anlage, die aus je fünf Schlachthäusern bestand. Nach dem Zweiten Weltkrieg, als in St. Marx die zerstörten Schlachtanlagen wieder aufgebaut worden waren, gab es keinen Bedarf mehr nach einem großen Pferdeschlachthof. 1953 wurden die Anlagen abgerissen.
Blutgrund
Die Gemeindebauten von heute erinnern in ihrer Anordnung stark an das ehemalige Schlachthofgelände. Nur auf dem von der Spittelbreitengasse ansteigenden Gelände wurde die Baulinie zurückversetzt, damit die Menschen nicht auf „Blutgrund“ wohnen müssen. Der Architektur und den gewählten Fassadenfarben ist es jedenfalls gelungen, ihre Vorvergangenheit vergessen zu lassen. Oder sind es die blühenden Sträucher und Stauden und der Blumenschmuck auf den Balkonen? Die Stimmung ist jedenfalls heiter bis wolkig, als ich über die Ruckergasse gehe und ins Gasslwerk des zwölften Hiebs eintauche.
In der Zeleborgasse stehe ich plötzlich vor einem Portal, über dem eine Überschrift auf ein Gewerbe verweist, von dem ich noch nie gehört habe: Strichelei.
Klingelt was? Die Lösung dieses Rätsels ist ein intelligentes Spiel mit Buchstaben, das die Künstlerin Natalie Deewan vor ein paar Jahren veranstaltet hat: Sie fertigte aus alten Geschäftsbeschriftungen Anagramme an. Das heißt, sie trotzte den vorhandenen Buchstaben neue Bedeutungen ab. Hier in der Zeleborgasse hatte die Tischlerei Cupak ihre Werkstatt, und die Irritation, die das Vertauschen von ein paar Buchstaben erzeugt, spüre ich noch heute, und ich freue mich, wie unvermutet ich aufs intellektuelle Glatteis geführt wurde. Inzwischen ist eine Galerie in die Strichelei eingezogen. Ich würde sagen: Könnte nicht besser passen.
Etwas später komme ich an den Kreisel, wo sich Böckhgasse, Bebelhof und die Aßmayergasse treffen und stehe vor einer roten Fassade, über die sich meterhoch das Mosaik „Das gute und das böse Prinzip“ von Heinz Klima erstreckt. Es ist ein didaktisches Werk der Fünfziger, das die Bewältigung der modernen Zeiten beschwört. Ich betrachte es lange. Ein Anrainer folgt meinen Blicken die Fassade hinauf und sagt: „Jo, do schau her.“ Die Stadt ist ein Lebewesen.
Schlosspark Schönbrunn – Gloriette – Hohenbergstrasse – Schwenkgasse – Spittelbreitengasse – Ratschkygasse – Zeleborgasse – Wilhelmstrasse – Assmayergasse: 3.500 Schritte
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