Streicheln statt Sex: Sich bis zur Ekstase berühren

Wenn Sex routiniert wird, heißt es umdenken. Und üben, etwa mit dem „Sensate Focus“-Programm. Um sich wieder mehr selbst zu spüren.

Kann denn Streicheln Sünde sein? Kommt darauf an. Wenn’s Sinnlichkeit, Leidenschaft und Lust aufs Du inkludiert, dann ist Sünde das Gebot. Um sich dem anderen anders zu nähern, als man es bisher vielleicht gewöhnt war. Heißt: Nicht ran, rauf und rein, sondern viel bewusster. Was dann Wunderbares passieren kann, durfte ich im Gespräch mit Angela und Christoph Kraus erfahren, die seit einigen Jahren „Slow Sex“ praktizieren, nachdem das, was sie im Bett routinemäßig trieben, nicht mehr sexy war. Dafür mussten sie viel üben. Wohl auch das Streicheln.

Oft werden im Laufe der Beziehungsjahre einst aufregende, atemlose Begegnungen zur Routine. Sie weiß, wo er bei ihr als nächstes hingreifen, zwirbeln oder lutschen wird (und gähnt heimlich). Er weiß, dass sie – kaum steht sein Penis – erst damit herumspielen wird, um bald zu sagen: geht schon, gemma. Dann wird gebumst (während er an den letzten Porno denkt, den er heimlich am Handy geschaut hat). Er kommt sehr schnell, sie vielleicht gar nicht. Und wenn sie nicht gestorben sind, dann vögeln sie weiter so fad. Vergeudete Liebeszeit! Zumal alles anders sein könnte.

Streicheln, statt drauflosvögeln wäre eine erste gute Idee, wie es bei „Sensate Focus“, dem fünfstufigen Streichel-Interventionsprogramm von Masters und Johnson, angeregt wird. Das braucht Zeit, Raum und Wille zum Hautkontakt der anderen Art. Bewusst. Langsam. Inniglich. Atmend. Nicht Huschpfusch. Und keineswegs mit dem Ziel, möglichst zügig Richtung Akt und Orgasmus zu jagen. Im Gegenteil: Sensate-Focus-Streicheln ermöglicht ihr und ihm, sich von Druck und Bang-Bang-Leistungsansprüchen zu lösen, während man den eigenen Körper und seine Regungen erfährt, um gleichzeitig den Körper und die Vorlieben des anderen zu erforschen. Ohne richtig, ohne falsch, ohne Druck, ohne Blick auf die Uhr, sondern: einfach so. Die Erkundungsreise auf der Empfindsamkeits-Landkarte des jeweils anderen, wobei die Genitalien und erogenen Zonen erst einmal tabu bleiben. Ein Tanz der Hände und Finger, mal mit der ganzen Handfläche, dann nur mit dem kleinen Finger oder mit der Handkante. Kreisend, wandernd, verharrend. Das ist Phase I.

Einfach nur genießen!

Wer die lange genug „geübt“ hat, darf weiter, in Phase II: Jetzt sind auch die erogenen Zonen dran, aber keinesfalls mit dem Ziel, einander zu erregen und sich hochzujazzen, sondern einfach so. Genießen lautet das Motto – sich selbst, den anderen, diesen Moment. Nun folgt das erkundende und schließlich das stimulierende Streicheln. Ersteres bedeutet, explorativ und spielerisch vorzugehen, kommt Geilheit auf, wird unterbrochen. Man erforscht „unschuldig“. Zweiteres inkludiert nicht nur den Tanz der Hände, sondern mehr. Endlich dürfen die Geübten den anderen auch manuell oder oral stimulieren und erregen – doch nur bis zu einem gewissen Punkt. Wichtig ist, die Erregung immer wieder sanft abklingen zu lassen. Danach kommt lang nix, schließlich Stufe 5: den Penis einführen, ohne Fokus auf die Erektion. Die steht nicht im Vordergrund, sondern die Beobachtung, was passiert, wenn man weder Ansprüche noch Erwartungsdruck hat. Irgendwann Stufe 6 mit Sex, hier: das Spiel mit der Erregung zwischen Kommen und Gehen, wobei jeder herausfinden soll, wo er intensiv Lust empfindet. Auf der höchsten Stufe folgt „Koitus Freestyle“ – der nach all dem, was bisher gelernt und integriert wurde, mit neuen Empfindungen aufwarten wird. Zu denen beide vermutlich sagen werden: Wow! So kann’s auch gehen. Jetzt aber – lieben: mit Leib, Seele, Haut, Haaren – und sehr viel Herz.

Umfrage

Wie aufgeschlossen sind die Österreicher in Bezug auf „Sex Positivity“, gleiche Rechte für alle und offenen Zugang zu Sexualität? Das wurde im Rahmen einer Umfrage von ElitePartner erhoben. 78 Prozent der Befragten wissen sehr genau, was sie beim Sex wollen und brauchen. Sechs von zehn Singles (60 %) sind aufgeschlossen und stehen der „Sex Positivity“-Bewegung positiv gegenüber (59 %).

Gabriele Kuhn

Über Gabriele Kuhn

Seit 1995 an Bord des KURIER - erst 14 aufregende Jahre lang als Ressorleiter-Stv. im Freizeit-Magazin, dann als Leiterin des Ressorts Lebensart. Seit 2017 Autorin. Kolumnistin. Interessens- und Know-How-Schwerpunkte: Medizin, Lifestyle, Gesundheit. Und Erotik. Die ironische Kolumne "Sex in der Freizeit" gibt es seit 2002. Damit's nicht fad wird, schreibe ich seit Anfang 2012 die Paar-Kolumne "Paaradox" gemeinsam mit Ehemann und Journalist Michael Hufnagl. 2014 wurde Paaradox zum Lesekabarett - mit Auftritten im Rabenhof und auf vielen Bühnen Ostösterreichs.

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