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Polyamorie: Vorteile und Gefahren der 'Liebe ohne Grenzen'
Polyamorie hat sich zum Trendthema entwickelt. Wo Vorteile, aber auch Gefahren liegen, erklärt Sozialwissenschafter Stefan Ossmann.
Liebe zu dritt, vielleicht sogar zu viert und zu fünft: Wo der Begriff "Polyamorie" fällt, sind der Fantasie zunächst keine Grenzen gesetzt. Von "Sodom und Gomorra" ist da oft die Rede, vom "stinknormalem Fremdgehen mit moralischem Überbau" oder einer "neuen sexuellen Revolution", so der Sozialwissenschafter Stefan Ossmann.
Rein begrifflich ist das Wort ein Neologismus, das sich aus zwei Wörtern zusammensetzt: "polys" für "viele" sowie "amor" für "Liebe". Wörtlich übersetzt, heißt "Polyamorie" also: "viele Lieben". Ossmann hat erforscht, was das praktisch bedeutet und welche Herausforderungen diese alternative Beziehungsform birgt. In seinem neuen Buch beantwortet er die zehn brennendsten Fragen zu diesem Trend-Thema. Im Interview gibt er einen tiefen Einblick ins "Universum der Mehrfachliebe" - Eifersucht niemals ausgeschlossen.
Wie kommt man als Sozialwissenschafter überhaupt dazu, sich mit Polyamorie zu beschäftigen?
Ganz einfach: Weil in meinem Bekanntenkreis einige Menschen sind, die polyamorös leben und die, wie sie vor einem Jahrzehnt damit begonnen haben, auf unterschiedliche Schwierigkeiten stießen. Es gab viele Fragen, aber wenig Literatur. Und im Umfeld wenig Verständnis. Das hat mich veranlasst, mich dieser Thematik anzunehmen und zu forschen. Daraus ist dann meine Doktorarbeit entstanden.
Polyamorie war vor zehn Jahren eine Nischenerscheinung, jetzt erfährt sie einen gewissen Hype. Warum ist das so?
Es wird medial breit darüber berichtet, man liest davon in der Yellow Press, in den bunten Blättern, beim Frisör. Sex verkauft sich halt gut. Dennoch gilt: So ganz in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist Polyamorie auch wieder nicht.
Aber ist es nicht so, dass nicht wenige mit dieser Art und Weise, zu lieben, im Verborgenen liebäugeln? Weil man dann seine Affären nicht mehr verheimlichen müsste?
Ja, durchaus. Zweifellos ist die Monogamie eine kulturelle Errungenschaft, die uns als Gesellschaft vorangebracht hat, was aber trotzdem nichts am Bedürfnis ändert, mit anderen Menschen intim und sexuell sein zu wollen. Oder eben, wie bei der Polyamorie, weitere Menschen zu lieben. Im Zuge dessen, dass derzeit vieles kritisch hinterfragt wird, macht dieser Diskurs auch vor diesen Eckpfeilern der Gesellschaft nicht Halt. Was aber nicht heißt, dass dies gesellschaftszersetzend ist.
Polyamorie gilt als "Königsdisziplin" alternativer Beziehungsformen, was macht sie so komplex und schwierig?
Weil dabei auch Emotionen ins Spiel kommen, was sie von offenen Beziehungen unterscheidet. Bei der Polyamorie geht es um den Versuch, mehr Menschen zu lieben und vielfältige Beziehungsstrukturen aufzubauen.
Die manchmal sehr kompliziert sein können, wie Sie in Ihrem Buch sehr schön beschreiben. Was war die komplexeste Struktur, die Sie bei Ihren Nachforschungen kennenlernen durften?
Nun, ich habe Menschen ihre Beziehungsformen und -cluster aufzeichnen lassen. Da gab es ganz einfache Zeichnungen mit drei beteiligten Personen und etwas komplexere mit bis zu acht, neun Menschen. Selten, aber doch, existieren Konstrukte, in denen zwischen 30 und 35 Personen vorkommen. Wobei es nicht so ist, dass da eine Person gleichzeitig mit allen anderen Menschen verkehrt, das muss man sich vielmehr als komplexe Molekülstruktur vorstellen, mit unterschiedlichen Verbindungen, die nicht immer direkt miteinander zu tun haben. Das nennt sich "Polykül".
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Polyamorie-Forscher Stefan Ossmann
©Joland HofmannSpannend in Ihrem Buch ist der Gedanke, dass Polyamorie auch Teil eines neoliberalen Optimierungskonzepts sein könnte. In jenem Sinne, als Menschen permanent nach etwas noch Besserem oder Aufregenderem suchen – was auf diese Weise leichter geht.
Ja, das ist Professor Franz Eder geschuldet, dem Betreuer meiner Dissertation. Er ist Sexualhistoriker und Konsumforscher und hat mit der "Konsumbrille" auf das Projekt geschaut. In den Interviews für mein Buch habe ich allerdings bemerkt, dass das oft Menschen sind, die sehr früh zusammenkamen, langjährige Monogamie lebten und eines Tages meinten, dass das doch nicht alles gewesen sein kann, O-Ton: "Ich habe in meinem Leben mit zwei, drei Menschen geschlafen und bin jetzt neugierig. Ich will wissen, was es noch gibt." Das kann funktionieren, aber auch nicht.
Heißt: Nicht jede Person, die Polyamorie probiert, bleibt dabei?
Richtig, das funktioniert, wie gesagt, nicht für jeden, deshalb geht es dann oft auch wieder zurück Richtung traditionelle Monogamie oder andere Formen. Polyamorie ist nichts, was die Mehrheitsgesellschaft bedroht, sie bleibt am Ende eine Randerscheinung, die sich allerdings immer mehr ausdifferenziert.
Polyamorie ist aber nicht illegal ...
Nein, per se nicht, aber man kann eine Polybeziehung nicht rechtlich legitimieren im Sinn von Ehe oder eingetragener Partnerschaft.
Und was ist mit der Eifersucht, haben sich die polyamor lebende Menschen komplett abtrainiert?
Viele denken, dass es polyamore Menschen gut haben, weil sie nicht mehr eifersüchtig sind. Ein falsches Bild. Eifersucht bleibt auch hier ein Riesenthema, weshalb ich im Buch ausführlich darüber geschrieben habe.
Vor allem in der Ratgeberliteratur aus dem anglo-amerikanischen Raum heißt es dazu: Du musst lernen, damit umzugehen. Und da wäre noch der legendäre Begriff der "Mitfreude" – was ist davon zu halten?
Je genau, die Mitfreude: Freu dich für und mit deinem Partner, dass der/die jetzt Spaß hat…, dann wird alles gut. Und wenn du es nicht kannst, musst du noch mehr an dir arbeiten. Das funktioniert meist nicht, und für die Österreicherinnen und Österreicher noch viel weniger. Eifersucht existiert, das gilt es sich einzugestehen, anzuschauen und damit zu arbeiten. Die, die dieses Konzept durchziehen und mehr als einen Menschen lieben wollen, haben gar keine Alternative, als sich umfassend mit dem Thema Eifersucht auseinanderzusetzen, um Strategien und Wege zu entwickeln, damit zurechtzukommen.
Was ist da die größte Herausforderung?
Aus der Forschung wissen wir, dass es vor allem um Aufmerksamkeit geht. Das knappe Gut ist nicht Liebe, auch nicht Sexualität, sondern Aufmerksamkeit. Wie viel Zeit wird mit wem verbracht, was mache ich mit A, was mit B, mit wem verbringe ich ein Wochenende oder sogar einen Urlaub, etc. Sehr oft tauchen auch klassische Fragen auf wie: "Was kann der/die andere besser als ich?" Da muss man viel darüber sprechen, daher ist der Redebedarf in polyamoren Beziehungen besonders groß, im Sinne eines Verhandlungsbedarfs.
Welche Eigenschaften müssen Menschen mitbringen, um polyamor leben zu können?
Toleranz ist der wichtigste Punkt. Was man auch mitbringen muss, ist, wie erwähnt, Zeit und die Bereitschaft, sehr viel miteinander zu reden. Personen, die viel Sex haben, aber wenig Verantwortung tragen wollen, werden nicht bei der Polyamorie andocken, beziehungsweise, es schnell wieder bleiben lassen. Eben, weil es sehr viel um ein Ausdiskutieren und Verhandeln geht. Wenn man etwa ganz simpel von drei beteiligten Personen ausgeht, sind das zu Weihnachten immerhin drei Familienfeiern, die zu organisieren sind. Das sorgt für erhöhten Diskussionsbedarf.
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Neues Buch: "10 Antworten auf die 10 großen Fragen der Polyamorie. Die Fakten zum emotionalen Thema Mehrfachbeziehungen" , Stefan Ossmann, Verlag Goldegg, 230 Seiten, 24 €
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