Wien ist die unfreundlichste Stadt der Welt - und das ist gut so

"Wie schön wäre Wien ohne Wiener", denken sich Expats laut einer neuen Umfrage. Dabei sind's doch eben diese, die Wien so lebenswert machen.

Ein bisschen Gerempel in der U-Bahn, eine alte Dame, die aus dem Fenster schimpft, wenn man den Müll nicht korrekt wegwirft. Kommt euch das bekannt vor? Wenn ja, dann lebt ihr in Wien. 

Die Wiener Seele. Viel ist sie besungen und viel wird sie missverstanden. Ich will hier die Mieselsucht der Wiener nicht prinzipiell leugnen, aber schönreden: Denn meiner Meinung nach macht die Ehrlichkeit die Wiener zu dem einzigartigen Völkchen, das sie sind. 

Gleich vorweg: Ich bin typische Wienerin. Ich bin oft grantig und sage manchmal zu schnell meine Meinung. Als ich in meinen frühen 20ern in London lebte, wurde ich mit einer gänzlich gegenteiligen Kultur konfrontiert. Die Londoner sind immer höflich und freundlich. Wenn man in der Underground jemandem im Gedränge auf die Zehen steigt, entschuldigt sich das Gegenüber dafür, dass es im Weg war. Wenn man irgendwo warten muss, wird sofort eine fein-säuberliche Schlange gebildet, in der alles ihre Ordnung hat - sogar beim Einsteigen in den Bus. London ist so riesig, dass das Zusammenleben ohne diese Höflichkeit im Krieg enden würde. (9 Millionen Wiener so auf einen Haufen zu schmeißen...? Ich will's mir gar nicht ausmalen!) 

Doch hinter der englischen Höflichkeit liegt etwas anderes: pure Heuchelei. Der eben noch freundliche Herr mit dem von mir getretenen Zeh sagt zwar "I'm so sorry", wirft mir aber einen Blick zu, der töten könnte. Betritt man in London abends ein Pub oder einen Restaurantclub, sieht man Securities mit schuss- und stichfesten Westen. Anfangs fand ich das voll übertrieben, doch mit der Zeit wurde mir bewusst: In London kommt es abends täglich zu zahlreichen Schlägereien und Stechereien. Wenn der Alkohol fließt, wird nicht nur gepöbelt, sondern es geht zur Sache. 

Was hat das mit Wien zu tun? Nichts. In Wien mag es vereinzelt zu solchen Vorfällen kommen, doch wer fürchtet sich ernsthaft abends beim Spaziergang über den Schwedenplatz? Während der durchschnittliche Londoner immer "alert" ist, dass er gleich überfallen oder verprügelt werden könnte, schlendert der Wiener mit seinem Bier entspannt summend über den Karlsplatz. 

Ja, wir sind unfreundlich. Und ja, bei uns "sad's olle im Oasch daham".  Aber das war's dann auch, wir meinen's ja nicht so. Bei uns bekommt man selten "eine in die Gosch'n". Der durchschnittliche Wiener reagiert seine Aggression verbal an seinen Mitmenschen ab - und macht sich dann am Würstelstand eine Dos'n Bier auf. Wen juckt's?

Und dann ist da noch die Sache mit der Ehrlichkeit. Der durchschnittliche Wiener verstellt sich nicht. Er sagt g'rad heraus, was Sache ist. Das lässt ihn auf den ersten Blick unnahbar wirken. Während ich zu Beginn meiner London-Zeit tolle Leute kennenlernte und mir dachte: "Wow, sind die alle offen", stellte ich schnell fest, dass die freundliche Oberflächlichkeit nichts wert ist. Wahre Freunde zu finden, ist schwer. Es mag den Expats in Wien vielleicht ähnlich gehen, doch der Schein trügt. Hat man in Wien mal Freunde gefunden, bleiben sie's für immer. Wir sind einfach treue Seelen.

Unsere grantige und ehrliche Art ist zutiefst gutmütig. Auch wenn's nicht immer auf den ersten Blick so scheint. Und diese (versteckte) Gutmütigkeit prägt auch die viel gelobte Lebensqualität der Stadt. Um es mit Paul Hörbigers Worten zu sagen: Wenn Wien nicht wär', dann müsst' man Wien erfinden

Sandra Keplinger

Über Sandra Keplinger

Seit Sommer 2021 im KURIER Medienhaus, zuerst als Digital Producer für die Freizeit, jetzt im Audience Development tätig. Sie arbeitete als Foto- und Modechefin beim WIENER, schrieb über das Mode-Business in der DIVA und war CvD bei Falstaff.

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