Einander die Hände reichen kann sich positiv auf die Gesundheit auswirken.

Richtig vergeben: Was Forschung und Experten wirklich raten

Zwischen Hashtags wie #GoodVibesOnly und Mantras à la „Lass los“: Vergebung ist zum Lifestyle-Phänomen geworden – doch was steckt wirklich dahinter?

Vergebung. Ein Thema, das in den sozialen Medien boomt: In Ratgeber-Postings zu #forgive oder #letgo gibt es Tipps im Schnelldurchlauf – von „einfach loslassen“ bis „Vergebung befreit“.

Fakt ist: Vergebung, ob gegenüber anderen oder sich selbst, kann gesundheitsfördernd wirken (weniger Stress, Depression, bessere Herzgesundheit). 

Ein US-asiatisches Forschungsteam um Yu-Rim Lee und Robert Enright bestätigte bereits 2019 zumindest die erste Hälfte folgenden Shakespeare-Zitats: „Vergebung tut vor allem dem gut, der vergibt.“ Wer Groll loslässt, schützt sich, seinen Körper und seine psychische Gesundheit. Damals werteten die Forschenden 128 Studien mit über 58.000 Teilnehmenden aus.

Das Ergebnis: Vergebung senkt Stresshormone, verbessert die Durchblutung des Herzens und kann Beschwerden bis hin zu Herzrhythmusstörungen vorbeugen. Selbst bei chronischen Leiden wie Fibromyalgie linderten verzeihende Haltungen die Symptome spürbar.

Neue Studie zur Vergebung

Nun zeigt eine neue Studie, dass hinter dem Schlagwort „Vergebung“ weit mehr als nur ein Ruckzuck-Gefühlsakt steckt. Nicht nur: Er sorgt für Verwirrung, auch in der Forschung. Dass Vergebung ein zentraler Wert ist, heißt nämlich noch lange nicht, dass allseits Einigkeit darüber herrscht, was damit gemeint ist. Die meisten Menschen verstehen nicht, wofür der Satz „Ich vergebe dir“ steht. Ein Problem für Forschende auf diesem Gebiet. Eine aktuelle Analyse von Song, Enright & Kim spricht hier von einem „definitional drift“ (was in etwa „begriffliche Verwässerung“ bedeutet).

Wissenschaftlich-philosophisch kursieren acht unterschiedliche Verständnisse – vom reinen Willensakt, etwa („Ich habe entschieden, zu vergeben“), über die Emotionsregulation bis hin zur „umfassenden Vergebung“, die negative Gefühle, Gedanken und Handlungen abbaut und positive Haltungen wie Mitgefühl stärkt (siehe Infobox ganz unten).

Michael Musalek, Psychiater und Neurologe

©Kurier/Juerg Christandl

Inflationäre Verwendung

Durch eine unscharfe oder inflationäre Verwendung wirkt der Begriff zunehmend verschwommen, wie im Zuge des aktuellen „Vergebungstrends“. Platte Tipps im Sinne der Lebensoptimierung verführen zu einer oberflächlichen Sicht auf ein komplexes Thema. Dann wird Vergeben zur einfachen Wellness-Übung hinuntergebrochen. Wer also Vergebung auf ein Gefühl oder eine Floskel reduziert, verfehlt ihren wahren Kern.

Der Psychiater Univ.-Prof. Michael Musalek formuliert es so: „Es gibt das gesagte und das gelebte Vergeben. Das gesagte kann ein Bumerang sein – es verschlechtert Beziehungen, wenn es nur aus Resignation oder Selbstaufgabe geschieht.“

Echte Vergebung sei hingegen beziehungsstiftend. Sie unterscheidet sich von Versöhnung (die beidseitig geschieht) und vom Entschuldigen. Letzteres könne entwertet werden, wenn jemand sich schon entschuldigt, während er noch das Falsche tut. „Wir spüren sehr genau, ob eine Entschuldigung echt ist“, sagt Musalek. „Vergebung setzt voraus, dass der andere um Vergebung bittet – und dass es innerlich stimmt.“ 

Aus seiner Sicht ist Vergebung „wahrscheinlich die Kulturleistung des Menschen schlechthin.“ Kein anderes Lebewesen kenne dieses Prinzip – im Tierreich gibt es Kampf, Vergeltung, vielleicht Vermeidung, aber kein echtes Vergeben. „Nur der Mensch ist in der Lage, dem anderen trotz erlittenen Unrechts wieder mit Wohlwollen zu begegnen.“

„Vergebung ist kein Freibrief, aber sie ist ein Geschenk – für den, der sie bekommt, und für den, der sie gibt.“ 

Michael Musalek, Psychiater und Neurologe

Rückfall in die Vergeltung

Historisch betrachtet ist das nicht selbstverständlich. „In unseren Breiten begann es mit Schuld und Sühne – Auge um Auge, Zahn um Zahn“, so Musalek. „Dann kam mit der christlichen Liebesethik ein Paradigmenwechsel: Vergebung wurde ein Kernwert.“ Auch in der Rechtsprechung spiegelt sich dieser Fortschritt: Wer seine Strafe verbüßt hat, soll einen Neuanfang wagen können. Doch Musalek beobachtet aktuell eine Rückentwicklung: „Heute hört man oft: lebenslänglich – ohne jede Chance auf Wiedereingliederung. Das ist ein Rückfall in die Logik der Vergeltung.“

Manchmal ist Vergebung nicht möglich – oder nicht sofort. „Es ist kein Schalter, den man umlegt“, so Musalek. Tiefe Verletzungen brauchen einen langen Atem und ein hohes Ausmaß an Resilienz. Wichtig sei, Vergebung überhaupt als Option im Blick zu behalten. 

Die Studie zeigt auch, dass ein umfassendes Verständnis – Reduktion von Negativem und Aufbau von Positivem – den nachhaltigsten Effekt hat: Wer so vergibt, entscheidet sich nicht nur gegen Rache, sondern für eine wohlwollendere Sicht auf den anderen, ohne die Tat zu verharmlosen.

Ehrlich vergeben

Besagte Unschärfe des Begriffs kann daher auch gefährlich sein: Sie kann dazu führen, dass Opfer gedrängt werden, „schnell zu vergeben“. Musalek warnt: „Vergebung darf niemals erzwungen werden. Sie entbindet auch nicht von Verantwortung.“ Sie verliert ihren Wert, wenn sie als Abkürzung oder Freibrief dient, um unangenehme Wahrheiten zu umgehen.

Stattdessen braucht es Ehrlichkeit: Geht es mir nur darum, den Ärger loszuwerden? Will ich eine Beziehung retten? Oder möchte ich innerlich frei werden – auch wenn die Beziehung endet? Für Musalek ist klar: „Vergebung ist kein Freibrief, aber sie ist ein Geschenk – für den, der sie bekommt, und für den, der sie gibt. Richtig verstanden, stärkt sie nicht nur Beziehungen, sondern unsere ganze Kultur.“

Acht Gesichter der Vergebung

  • Entscheidung oder Gefühl: Vergebung als bewusster Entschluss oder Gefühlsänderung – problematisch, wenn nur eines von beiden gemeint ist.
  • Nur Gefühle beruhigen: Weniger Ärger oder Wut, ohne dass sich Denken oder Verhalten ändern.
  • Negatives abbauen: Ärger, Hass oder Rachewünsche verschwinden – ohne aber bewusst Positives aufzubauen.
  • Einmalig oder Teil des Charakters: Vergebung als einzelne Handlung oder als feste Eigenschaft – oft nicht klar getrennt.
  • Nur die Absicht ändern: Der Wille, keinen Schaden mehr anzurichten – ohne emotionale oder gedankliche Auseinandersetzung.
  • Vergebung für Dinge oder Ereignisse: Zum Beispiel einer Naturkatastrophe „vergeben“ – fraglich, weil es keinen Täter gibt.
  • Vage oder unscharf: Unklare Definitionen, Modewörter oder Coaching-Formeln ohne Kern.
  • Umfassende Vergebung: Negatives abbauen und Positives wie Mitgefühl fördern – laut Autoren die stimmigste Definition.
Gabriele Kuhn

Über Gabriele Kuhn

Seit 1995 an Bord des KURIER - erst 14 aufregende Jahre lang als Ressorleiter-Stv. im Freizeit-Magazin, dann als Leiterin des Ressorts Lebensart. Seit 2017 Autorin. Kolumnistin. Interessens- und Know-How-Schwerpunkte: Medizin, Lifestyle, Gesundheit. Und Erotik. Die ironische Kolumne "Sex in der Freizeit" gibt es seit 2002. Damit's nicht fad wird, schreibe ich seit Anfang 2012 die Paar-Kolumne "Paaradox" gemeinsam mit Ehemann und Journalist Michael Hufnagl. 2014 wurde Paaradox zum Lesekabarett - mit Auftritten im Rabenhof und auf vielen Bühnen Ostösterreichs.

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