Die deutsche Paartherapeutin Anna Wilitzki im Gespräch.

"Die große Ekstase ist für eine glückliche Beziehung nicht wichtig"

Was macht die ständige Präsenz von Tinder und Co. mit unseren Beziehungen? Die deutsche Paartherapeutin Anna Wilitzki im Gespräch.

Sofia will eine offene Beziehung. Philip ist fremdgegangen. Esther und Frank schreien einander nur noch an. Und Helene ist genervt, weil alle Mitleid mit ihr als Single haben. 

Die Probleme der Paare im neuen Buch "Einfach lieben" (Rowohlt Verlag) der deutschen Therapeutin Anna Wilitzki sind grundverschieden. Und doch finden sich darunter oft dieselben Themen: Angst vor Verletzung, Angst vor dem Verlassenwerden. Der KURIER hat mit der Autorin über die Liebe gesprochen. Warum Tinder wie Schokolade im Kühlschrank ist und man mit dem Partner auf Adrenalin-Dates gehen sollte. 

Frau Wilitzki, in der Theorie ist es simpel: Zwei Menschen lieben einander und kommen zusammen. Warum ist Liebe dann aber oft so kompliziert? 

Anna Wilitzki: Weil wir stark unterschiedliche Menschen sind. Mit uns selbst ist ja Beziehung oft schon schwer genug. Und in dem Moment, in dem Emotionen hochkommen, wird es dann kompliziert. Dann fühlt sich einer auf dem sinkenden Schiff und die andere Person noch nicht. Wenn wir aber nicht auf derselben Wellenlänge sind, sprengt das die Möglichkeit, sich gut zu fühlen.

In ihrem Buch erzählen sie unter anderem die Geschichte von Esther und Frank, die ständig streiten. Bis sie erkennen, dass sie gekämpft haben, weil sie Angst vor der Traurigkeit hatten, die darunterlag. Wieso kommen wir mit Wut besser zurecht als mit Traurigkeit?

Weil wir uns mit Wut nicht schwach fühlen. Es ist gesellschaftlich viel akzeptierter, wütend zu sein als zu weinen. Man kennt das vielleicht aus dem Straßenverkehr oder von der Arbeit. Mit der Wut fühlen wir uns mächtig, wir haben das Gefühl der Kontrolle. Das gibt uns Sicherheit in so einem sensiblen Bereich wie der Liebe.

Mann und Frau auf dem Bett, weggedreht, Streit

Das Beziehungskonzept muss für beide stimmig sein

©Getty Images/iStockphoto/Prostock-Studio/iStockphoto

Kontrolle ist also gut?

Ein gewisses Maß an Kontrolle ist überlebenswichtig. Unser Gehirn reagiert bei Verletzlichkeit also immer noch mit dem Flucht-oder-Kampf-Modus. Wenn wir uns alleine fühlen, dann sind wir – für unser Gehirn – in Lebensgefahr. Wir können uns selbst kognitiv sagen: Das ist Liebeskummer. Oder: Das ist jetzt gerade nur ein Streit. Aber unser Gehirn nimmt etwas anderes wahr. Unser Gehirn nimmt wahr, wie wir uns gerade fühlen: Und da ist Alarmbereitschaft, die Atmung ist anders, das Blut beginnt zu pochen. Das sind Reaktionen, die wir kennen, wenn wir einen Herzinfarkt bekommen oder uns belasten. Das ist bedrohlich. 

Die deutsche Paartherapeutin Anna Wilitzki

©Nathalie Gros

Immer mehr Paare probieren – so wie Sofia und Ben in Ihrem Buch - alternative Konzepte. Offene Beziehungen oder Polyamorie. Befreit es uns, dass das Korsett der Gesellschaft gelockert ist?

Ich bin da ein bisschen zwiegespalten. Für manche Paare ist es das perfekte Beziehungsmodell. Aber ich erlebe gerade viele jüngere Menschen, vielleicht Mitte 20, die den Druck haben, dieses Lebenskonzept zu führen. Ich hatte gerade so ein Paar. Er war ein ängstlicher Bindungstyp. Deswegen ist ein offeneres Beziehungskonzept für ihn leichter. Doch sie war zu ängstlich, um zu widersprechen. Am Ende hat es ihre Beziehung gesprengt. 

©Rowohlt Verlag

Ist Freiheit also nicht immer besser?

Bis zu gewissem Grad wollen wir die Gewissheit haben, dass sich jemand komplett für uns entschieden hat. Das kann auch bei offenen Beziehungen passieren, aber es ist essenziell, dass diese Idee von beiden gleichzeitig als Wunsch kommuniziert wird. 

Durch Dating-Apps und Social Media ist es einfacher geworden, neue Partner kennenlernen. Was macht das mit uns während einer Beziehung?

Wir haben viel mehr als früher das Gefühl: Gibt es vielleicht noch jemand besseren? Und dann denkt man sich vielleicht: Ich will ja nur kucken, was auf dem Markt ist, das ist ja nur swipen. 

Die ständige Präsenz von Dating-Apps verleitet

©Getty Images/iStockphoto/FilippoBacci/iStockphoto

Man ist also schneller verleitet?

Ja. Wir wissen sozusagen, dass im Kühlschrank noch Schokolade liegt. Da holt man sich schneller ein Stück, als wenn man dafür noch extra zum Supermarkt gehen müsste.

Wir haben - unter anderem durch Hollywoodfilme - besonders hohe Erwartungen an die Liebe. Sie muss beim richtigen Partner laut und intensiv und ekstatisch ist. Ist das wirklich so?

Die große Extase ist nicht wichtig. Kleine Momente, die immer mal wieder aufkommen, sind viel wichtiger. Aber das große Gefühl - das wir in unserer Verliebtheitsphase haben, in der wir Dopamin und Adrenalin ausschütten - bei dem ist von der Natur gewollt, dass das aufhört. 

Warum?

Wenn wir 20 Jahre lang vollgepumpt mit Adrenalin durch die Welt laufen, wäre das ungesund. Unser Körper würde daran zerbrechen und wir würden alle früher sterben. Das heißt aber natürlich nicht, dass wir uns als Paar nicht darum bemühen können, immer mal wieder einen Picks nach oben haben. 

Man sollte sich während der Beziehung verabreden, sagt Wilitzki

©Getty Images/South_agency/istockphoto

Sie meinen, auch mal wieder ein Date mit dem langjährigen Partner auszumachen, wie sie es Isabel und Philipp vorschlagen?

Wenn man mit Ende 20 zusammengekommen ist, dann ist man mit Ende 50 nicht mehr dieselbe Person. Aber das vergessen viele. Sie denken: Ach, ich hab mich weiterentwickelt, aber in meiner Beziehung bin ich noch die gleiche. Aber das ist man nicht, die andere Person ja auch nicht. Deshalb ist das Dating wichtig, um sich auch mal wieder kennenzulernen. Und Studien haben auch gezeigt: Paare, die gemeinsam etwas Neues, Aktives ausprobieren, haben bessere Ergebnisse bei dem Verliebtheitsgefühl, als jene, die nur ein Date auf der Couch haben. 

Neuerscheinung

Einfach Lieben

In ihrem ersten Buch "Einach lieben" (Rowohlt, 19 Euro) nimmt Paartherapeutin Anna Wilitzki mit ins Therapiezentrum. Wir lernen von sechs Paaren, ihren Problemen, ihren Themen und obwohl die Personen fremd sind, findet man sich in manchem dann doch auch selbst wieder. 

Anna-Maria Bauer

Über Anna-Maria Bauer

Wienerin und Weltenbummlerin. Leseratte und leidenschaftliche Kinogeherin. Nach Zwischenstopps in London und als Lehrerin in der Wien-Chronik angekommen. Interessiert an Menschen, die bewegen, begeistern oder entsetzen; an ungewöhnlichen Ideen und interessanten Unmöglichkeiten. "Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit." Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter.

Kommentare