Tamagotchi-Boom: Warum jetzt Erwachsene zum Retro-Ei greifen

Die Tamagotchi-Verkaufszahlen haben sich von 2022 auf 2023 verdoppelt. In London gibt es nun erstmals einen offiziellen Shop.

Warum fasziniert das kleine Spielei in Zeiten komplexer Smartphones immer noch?

Ein sanfter Zug am Papierstreifen und das kleine Isolierband löst sich aus dem blaugrünen Gerät. Mit einem überraschend lauten Piepton erscheint auf dem 32 mal 32 Pixel großen Bildschirm (zum Vergleich: Das sind 0,3 Prozent eines Smartphones) ein pulsierendes, schwarz-weiß geschecktes Ei.

Vier Minuten und 49 Sekunden später piepst es erneut: Das Haustier ist geschlüpft und pilgert unruhig über den Bildschirm. Es ist hungrig, unglücklich, undiszipliniert – vor allem aber: Es ist wieder da, das Tamagotchi.

War weg und feiert eine fulminante Rückkehr: das Tamagotchi

©Bauer Anna-Maria

Das virtuelle kleine Haustier, das Teenager in den 1990ern in die Verzückung und Eltern mit seinem Klingeln und seinen Anforderungen zuweilen in die Verzweiflung getrieben hat, für das Online-Clubs und später virtuelle Friedhöfe erstellt wurden, ist wieder in den Regalen der Spielwarenhandlungen zu finden. 

London für Geschäft auserkoren

Weltweit, so wird das Unternehmen von der BBC zitiert, hätten sich die Verkaufszahlen von 2022 auf 2023 sogar verdoppelt. Und wer in London den geschäftigen Camden Market besucht, die Camden Lock Bridge überquert und linker Hand in die Stables eintaucht, wird nach wenigen Metern vom Klingeln der "Bandai Namco" Spielarkade angelockt. Einen Stock darüber liegt der kürzlich eröffnete, erste offizielle Tamagotchi Store Europas. 

Der erste offizielle Tamagotchi Store Europas

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Das neueste Modell, das Tamagotchi Connect, mit dem man sich mit anderen verbinden kann, sei schon wieder ausverkauft, sagt der Verkäufer: "Es war schon wenige Stunden nach Lieferung vergriffen." 

Doch wieso erlebt in Zeiten ausgeklügelter Smartphones, in deren App-Stores abertausende Spiele mit komplexer Grafik und detaillierten Geschichten aufs Herunterladen warten, ausgerechnet ein buntes Ei mit winzigem Schwarzweißbildschirm ein neues Hoch?

Nostalgie trifft Nerv

"Na, sind sie aber nicht süß?", sagte die Verkäuferin im Tamagotchi Store und greift zum Modell Garden. Ein grünes Ei mit bunten Bäumen und Tieren verziert. "Das werde ich mir bald gönnen." Sie lächelt.

Damit fällt sie genau in die Zielgruppe. Denn weniger als die Teenager sind es diesmal die jungen Erwachsenen, die nach dem Spielzeug greifen. Psychotherapeutin Béa Pall vom Österreichischen Bundesverband für Psychotherapie hat dafür eine Erklärung: "Für viele junge Erwachsene weckt das Tamagotchi schöne, unbeschwerte Kindheitserinnerungen. Es ermöglicht ihnen, ein Gefühl von Geborgenheit aus dieser Zeit wieder aufleben zu lassen." 

Béa Pall vom Österreichischen Bundesverband für Psychotherapie 

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"Es ist so nostalgisch", sagt auch Emma auf ihrem YouTube-Kanal Emmalution, mit dem sie ihre 61.000 Follower an ihren Computerspiel-Erfahrungen teilnehmen lässt. Ihr erstes Tamagotchi hatte sie als Schülerin. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin kam sie regelmäßig in Schwierigkeiten, wenn es während der Stunde um Aufmerksamkeit rief.  

Fütterungszeit 

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Vor wenigen Monaten hat sie sich wieder ein Tamagotchi besorgt. Mittlerweile besitzt sie ein halbes Dutzend. 

"In einer Welt, die immer schnelllebiger und unsicherer wird, in der Plattformen wie TikTok uns ständig mit neuen Reizen überfluten, fühlen sich viele überfordert", ergänzt Pall. Das Tamagotchi bietet eine Möglichkeit, sich für eine Weile zurückzuziehen: "Es ist überschaubar, simpel und gibt, durch seine wiederkehrenden Rituale, Halt."

Und es berührt einen auf skurrile Weisen. Wenn die Herzen nach Burgern, Kuchen und Spielen gefüllt sind, wenn man zusehen kann, wie es stetig größer wird, wächst ein surreales Gefühl der Zuneigung.

Digitales Haustier, echte Gefühle

"Es handelt sich ja um etwas 'digital Lebendiges'", sagt Professorin Martina Heßler von der Technischen Universität Darmstadt, die sich im Geschichtsinstitut auf Technikgeschichte konzentriert, "ein virtuelles Leben, für das die Nutzerinnen und Nutzer verantwortlich sind. Wir wissen, dass Menschen auf solche artifiziell Lebendiges sehr emotional reagieren und oft emotional nicht mehr in der Lage sind, es von 'wirklich' Lebendigem zu unterscheiden. Auch, wenn sie kognitiv wissen, dass es sich um ein Plastikgerät handelt, das Leben simuliert." 

 Professorin Martina Heßler von der Technischen Universität Darmstadt

©Martina Heßler

In gewisser Weise, ergänzt Heßler, würde es viel besser in die heutige Zeit als in die 1990er Jahre passen. "Heute sprechen wir mit Bots im Internet, mit Robotern in Warenhäusern, es gibt sogar BotCafes, in denen ein Roboter Kaffee zubereitet und serviert."

Die heile Welt der bunten Spiele 

Das bunte Haustier aus Japan reiht sich auch in eine stetig länger werdende Liste asiatischer Popkultur-Trends ein, die in Europa immer präsenter werden. TikTik-Videos über den Shanghai Store auf der Wiener Landstraße, der ein breites Sortiment an Hello Kitty-Produkten anbietet, haben 92.000 Views erreicht.

Asiatische Popkultur boomt

©REUTERS/TOBY MELVILLE

Im Club U oder im Camera Club werden regelmäßig K-Pop-Partys, Korean Pop Partys, veranstaltet. Im Prater gibt es seit diesem Sommer stilvolles koreanisches Schnee-Eis, auch der Bubble Tea feiert ein Comeback. Und zur Aninite, der Anime und Manga Convention, kamen im August 25.000 Fans ins Vienna Austria Center.

Die bunte, fröhliche und harmlose Welt asiatischer Popkultur bildet dabei einen Gegenpol zu den aktuellen Krisen und Unsicherheiten in der Welt.

Obwohl, ganz so harmlos ist das Tamagotchi nicht: Auf dem Bildschirm wartet ein unzufriedener Blick. Ein kleines Häufchen ist erschienen – warum wurde das noch nicht weggeräumt?

Anna-Maria Bauer

Über Anna-Maria Bauer

Wienerin und Weltenbummlerin. Leseratte und leidenschaftliche Kinogeherin. Nach Zwischenstopps in London und als Lehrerin in der Wien-Chronik angekommen. Interessiert an Menschen, die bewegen, begeistern oder entsetzen; an ungewöhnlichen Ideen und interessanten Unmöglichkeiten. "Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts ist phantasievoller als die Sachlichkeit." Egon Erwin Kisch: Der rasende Reporter.

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