Wie Wahlberliner Robert Seethaler über das Wesen Österreichs denkt

Seit 25 Jahren lebt der Favoritner in Berlin. Wie denkt er an seine Kindheit zurück? Wie sieht er die aktuelle politische Situation?

Er mag zwar in Berlin leben, doch Wien lässt ihn nicht los. Österreich und seine Geschichte, in die Robert Seethaler wiederum seine Geschichten verwebt, sind das Thema, bei dem der Autor verlässlich zur Bestform aufläuft. 

Schnörkellos schreibt er über Bauernkinder ebenso wie über Kaffeehausbesitzer am Karmelitermarkt. Die Romane des Favoritners wie etwa "Der Trafikant" oder "Ein ganzes Leben" verkaufen sich glänzend, werden gern verfilmt, und sind auch international hoch anerkannt. Reden wir mit Seethaler also über Wesen und Welt von Österreich – und über seine eigene Wiener Vergangenheit.

Sie kommen aus Wien-Favoriten, aber leben in Berlin. Wie kam es dazu? 

Ich bin vor 25 Jahren nach Berlin gezogen, habe aber lange Wien weiter als Lebensmittelpunkt betrachtet und bin gependelt. Dann wurde mein Sohn hier geboren, ein waschechter Berliner. Seitdem verbringe ich die meiste Zeit in Berlin. Man ist dort zuhause, wo seine liebsten Menschen sind. Die Sozialisation fand allerdings in Wien statt. Meine Eltern leben hier. Ich bin inzwischen österreichisch-deutscher Staatsbürger.

Gibt es diese Doppelstaatsbürgerschaften noch?

Es ist nicht leicht, eine zu bekommen, was ich gut finde. Nimmt man eine andere Staatsbürgerschaft an, verliert man die österreichische. In gewissen Fällen gibt es aber Ausnahmen.

Wie verändert sich der Blick auf Österreich, wenn man im Ausland lebt?

Mein Blick auf Österreich ist offener und freier und in gewisser Weise auch wärmer geworden. Ich blicke aus der Entfernung freundlicher auf Österreich, als ich es früher getan habe.

Robert Seethaler: "Das Schöne an Wien 2024 ist, dass es eben nicht mehr typisch wienerisch ist"

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Verklärt man Vieles?

Verklären liegt mir nicht. Aber viele Dinge sind ganz einfach schon sehr gut in Österreich. Wenn man woanders lebt, wird einem das umso mehr bewusst.

Wie halten Sie es mit der Sentimentalität, gerade wenn Sie an Ihre Kindheit zurückdenken?

Kindheit bedeutet für mich Herkunft, nicht Heimat. Diese Herkunft ist nicht nur positiv besetzt. An meine Kindheit erinnere ich mich nicht so gerne. Auch nicht an das Wien der Siebziger- und frühen Achtzigerjahre. Da war manches fragwürdig, auch die Einstellung vieler Menschen, die Engstirnigkeit, das Grau in Grau, das sich heute merkwürdigerweise so viele zurückwünschen. Ich nicht.

Heimat ist ein Begriff für Orte der ersten Male. Die vergisst man nicht. Der erste Kuss. Das erste Erstaunen. Der erste Rausch. 

Und Wien heute?

Mittlerweile empfinde ich Wien eher als eine weltoffene, europäische Großstadt voller Licht und gelebter Freiheit.

Was können Sie mit dem Begriff Heimat anfangen? 

Ehrlich gesagt nicht so viel. Ich bin so viel unterwegs, Heimatgefühle habe ich keine. Allerdings gute Gefühle zu den Orten meiner Jugend. Heimat ist ein Begriff für Orte der ersten Male. Die vergisst man nicht. Der erste Kuss. Das erste Erstaunen. Der erste Rausch. Das sind bleibende Momente, und die gibt es nun mal meist in der sogenannten Heimat.

Wie oft kommen Sie noch nach Wien?

Mehrmals im Jahr. Ich besuche meine Eltern und Freunde. Die Stadt verliert mich nicht. Ganz im Gegenteil, ich habe den Eindruck, dass ich sie immer wieder neu entdecke. Gerade jetzt, bilde ich mir ein, lerne ich Wien erst so richtig kennen. Oder wieder neu.

Gibt es das typisch Wienerische noch und was ist es Ihrer Meinung nach genau? 

Das ist mir nicht wichtig. Das Schöne an Wien 2024 ist, dass es eben nicht mehr typisch wienerisch ist. Das Granteln, die Gemütlichkeit und all das fällt tatsächlich unter Verklärung. Wien ist eine offene und internationale Stadt. Das finde ich gut. Ich wünsche mir kein Zurück.

"Ich bin trotz allem weit davon entfernt, auf Wien zu schimpfen", so Autor Seethaler, "Wien ist schön"

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Das sogenannte goldene Wiener Herz ist ja mitunter ein Missverständnis. Man kann den Begriff auch sarkastisch auffassen.

Die Hetz', die man sich macht, kommt nicht von ungefähr von der Hetze gegen andere. Wenn man den Schmäh immer nur auf Kosten anderer Menschen rennen lässt, ist das für mich kein Ausdruck eines goldenen Herzens, sondern eines rostigen und gemeinen. Ich bin aber trotz allem weit davon entfernt, auf Wien zu schimpfen. Wien ist schön. Nur sentimentale Verklärung fällt mir schwer. Es ist nur gut, im Kaffeehaus zu sitzen, wenn man es sich auch leisten kann.

Was ist das Wesen Österreichs? Oder lässt sich das ohnehin unmöglich feststellen.

Jedes Wesen ist ein Lebewesen, und das dauert nicht starr vor sich hin, sondern ist in ständiger Bewegung. Das trifft auch auf ein Staatswesen zu. Österreich verändert sich. Ohne Zweifel gab es nach dem Krieg Errungenschaften, die niemand missen will: Sozialbau, Mutterschutz, Karenzgeld, vier Wochen Urlaub, Demokratisierung der Universitäten usw., usw. Das alles macht diesen Staat aus. Aber wir müssen darauf achten, diese Dinge nicht nur zu erhalten, sondern auch zu erweitern, also in Bewegung zu halten. Dabei sollte niemand auf Denk- und Vorstellungsgrenzen stolz sein. Gibt es ein österreichisches Wesen? Ja. Es ist in Bewegung und sollte es auch bleiben.

Die Schauplätze Ihrer Romane wie "Der Trafikant" oder "Das Café ohne Namen" sind Wien und Österreich, Ihre Helden sind Knechte ebenso wie Musikgenies. Sie setzen sich intensiv mit Geschichte auseinander und entwerfen Zeitgemälde.

Die Orte der ersten Male lassen einen nicht los. Klarerweise setze ich mich sowohl mit der eigenen Familiengeschichte, als auch mit der Geschichte Österreichs auseinander. Meine Großeltern waren Vertriebene aus dem böhmisch-mährischen Grenzgebiet, die im zweiten Bezirk gelandet sind. Die Großmutter war Tellerwäscherin, der Großvater Asphaltierer, der Vater war Schlosser und beim Gaswerk – da komme ich her, und da wende ich mich in der Rückschau immer wieder hin.

Ein Arbeitermilieu, das Sie nicht sentimental betrachten, sondern aufrichtig.

Das ist zumindest das Milieu, dem ich entstamme, das heißt nicht, dass ich ihm noch angehöre. Ich wollte davon auch weg. Eine Verbindung kann ich aber nicht leugnen, das wäre auch sinnlos und schade. Ohne Wurzeln kein Wachstum.

Am liebsten spaziere ich durch den achten Bezirk. Vielleicht hat mich ja das studentische Flair der Achtzigerjahre im Achten damals gleichzeitig angezogen wie abgestoßen. Irgendwie ist so etwas wie eine kleine Sehnsucht geblieben. 

Ihr Vater war Schlosser, hatte aber auch ein Faible fürs Holzschnitzen. 

Er war kein hauptberuflicher Schnitzer, aber ein sehr guter. Ein Schlosser, der mit Holz arbeitet. Vor allem war er beim Gaswerk. Eine Abteilung befand sich übrigens auf der Josefstädter Straße, heute ist dort ein Luxushotel. Wo früher die Arbeiter im blauen Overall herumgelaufen sind, speist man heute Wachteleier. Im Schatten der Gasometer, wo heute hochpreisige Wohnungen sind, waren wir in der uralten Gaswerk-Sauna.

Haben Sie Lieblingsplätze in Wien?

Am liebsten spaziere ich durch den achten Bezirk. Obwohl ich dort eigentlich nie viel zu tun hatte, ich bin in Favoriten aufgewachsen. Vielleicht hat mich ja das studentische Flair der Achtzigerjahre im Achten damals gleichzeitig angezogen wie abgestoßen. Irgendwie ist so etwas wie eine kleine Sehnsucht geblieben.

Was bietet Ihnen Berlin?

Das frage ich mich mittlerweile auch. (lacht) Vor 25 Jahren war Berlin eine andere Welt – größer, wilder, aufregender als Wien. Aber Wien hat meines Erachtens aufgeholt. Berlin ist teurer geworden, fader, viele der freien Plätze sind verloren gegangen. Aber es gefällt mir immer noch. Es ist eine große, unfreundliche, dreckige Stadt, aber irgendwie schon in Ordnung.

Suchen Sie heute auch noch das Wilde an und in Berlin?

Mittlerweile geht mir das auf den Geist. Ich wohne in Berlin-Kreuzberg. Es ist laut und schmutzig. Trotzdem: Wo soll man sonst wohnen? Außer Wien fällt mir keine andere Stadt ein.

Robert Seethaler

Robert Seethaler

Robert Seethaler wurde 1966 in Wien geboren. Eine Arbeiterfamilie. Er jobbt als Verkäufer, Physiotherapeut, schreibt für den KURIER, dann wird er Schauspieler ("Ein starkes Team"). Als Autor feiert er große Erfolge mit Romanen wie "Der Trafikant", "Ein ganzes Leben" oder "Das Café ohne Namen". Lebt in Berlin. Ein Sohn.

In einem Interview meinten Sie einmal, die Grundstimmung Ihres Lebens wäre die Sehnsucht nach Stille. 

Was soll ich sagen: Der Mensch ist ambivalent. Ich suche die Stille im Zentrum des Lärms. Ich bin gerne in den Bergen, aber auf Dauer macht mich das dort oben depressiv. Ich brauche den Trubel, um mich davon immer wieder zurückziehen zu können.

Die Nationalratswahlen sind geschlagen. Wie sehen Sie die politische Situation in Österreich?

Alle sprechen von einem Rechtsruck, dabei ist es eher ein langsames Hinübergleiten. Jedenfalls keine Überraschung. Ich würde nicht in Panik geraten. Man sollte die Kraft des Denkens und der Ideen auf die 70 Prozent jener lenken, die nicht die FPÖ gewählt haben. Und vor allem sollte man sich nicht abhängig machen von destruktiven Erzählungen. Teile der Politik agieren bloß noch reaktiv, es fehlt aktuell die Kraft der eigenen Erzählung. Es gibt lichte Alternativen zum rechten Eck.

Worin liegt die Stärke von Rechts?

Sie schreien laut und deutlich. Auch ihnen fehlt ein brauchbares Narrativ, doch was sie vertreten, vertreten sie mit aller Kraft. Das ist ja das Anziehende. Vielen Menschen fehlt es offenbar an Perspektiven und Visionen.

Können Sie das nachvollziehen?

Ich kann solche Gefühle und Gedanken nachvollziehen, muss sie aber weder richtig noch nützlich finden. Es geht uns gut. Nicht umsonst wollen viele Menschen hierher. Mittlerweile ist die Gleichberechtigung der Frauen zumindest keine leere Idee mehr. Homosexualität ist legalisiert. Und vieles mehr. Das Gemeinwesen lebt, der Sozialstaat funktioniert, obwohl es da und dort holpert und knarzt. Das wird gerne vergessen, zugunsten einer rechten Erzählung, die im Grunde nur von Abgrenzung und Hetze lebt. Davon sollte man sich nicht verrückt machen lassen. Und wieder Lust an der Zukunft entwickeln.

Alexander Kern

Über Alexander Kern

Redakteur KURIER Freizeit. Geboren in Wien, war Chefredakteur verschiedener Magazine, Gründer einer PR- und Medienagentur und stand im Gründungsteam des Seitenblicke Magazins des Red Bull Media House. 12 Jahre Chefreporter bzw. Ressortleiter Entertainment. Schreibt über Kultur, Gesellschaft, Stil und mehr. Interviews vom Oscar-Preisträger bis zum Supermodel, von Quentin Tarantino über Woody Allen bis Jennifer Lopez und Leonardo DiCaprio. Reportagen vom Filmfestival Cannes bis zur Fashionweek Berlin. Mag Nouvelle Vague-Filme und Haselnusseis.

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