Interview

Warum man auf Bucket Lists verzichten sollte

Von der Liebe bis zur Weisheit: All diese Phänomene wurden schon erforscht. Und die Sehnsucht? Ein Gespräch über ein bittersüßes Gefühl, das viel über einen Menschen aussagen kann.

Eine der wenigen Wissenschaftlerinnen, die sich mit der Sehnsucht auseinandergesetzt hat, ist Alexandra M. Freund, Professorin am Institut für Psychologie an der Universität Zürich. Sie erzählt, wofür dieses nagende Lebensgefühl steht und was wir daraus lernen können. Und sie verrät, warum es ratsam ist, auf „Bucket Lists“ zu verzichten.

Sehnsucht, ein großes Wort – damit werden viele Gefühle verbunden. Was sagt die Wissenschaft dazu?

Alexandra M. Freund: Wir empfinden Sehnsucht als sehr intensives, teilweise bittersüßes Gefühl, das nicht nur ein Gefühl ist, sondern auch eine starke kognitive Komponente hat. Sie ist mit den Vorstellungen eines perfekten Lebens verbunden und repräsentiert, was fehlt. Verknüpft mit der Vorstellung: Wenn ich es hätte, wäre mein Leben rund und paradiesisch. Am Ende bleibt das eine Utopie. Wichtig an der Sehnsucht ist, dass sie „bittersüß“ ist, also nicht rein positiv besetzt. Das Süße kommt daher, dass man das, was einem fehlt, auf der imaginären Seite erlebt. Da ist viel Fantasie, eine bildhafte Komponente, geradezu. Das Bittere kommt daher, dass ich das Ersehnte eben nicht habe, dass es mir fehlt in meinem Leben: In der Vorstellung habe ich es, in der Realität habe ich es nicht. Das ist das Schmerzhafte daran.

Es heißt, im Wort Sehnsucht stecken die Worte „Sucht“ oder auch „Suche“.
Weder noch. Das sagen zwar viele, aber es kommt von dem Mittelhochdeutschen „sene siech“. Also „krank vor schmerzlichem Verlangen“. Was es für mich aber nicht richtig fasst, es hat vielmehr mit Melancholie zu tun, die nicht nur ein Zustand der Traurigkeit ist, sondern auch ein Zustand, der eine große Tiefe des Empfindens beinhaltet.
Mit Sehnsüchten verknüpfen viele die Idee von Perfektion …
Wir unterscheiden da verschiedene Komponenten. Eine davon ist, dass Sehnsucht symbolisch ist. Was ein Mensch als Gegenstand seiner Sehnsucht wählt, ist nicht das, was das Leben tatsächlich perfekt machen würde. Es steht für etwas. Ein Beispiel: Das schnelle Auto, nach dem sich jemand sehnt, kann Freiheit oder kraftvolles, energievolles Leben symbolisieren. Bei anderen steht es für Männlichkeit oder für die Idee, man hätte es in finanzieller Hinsicht geschafft. Sehnsüchte sind Utopien eines perfekten Lebens und bleiben damit unerreichbar. Wenn ich das schnelle Auto habe, ist mein Leben ja trotzdem nicht perfekt.
Sehnsucht ist der Ruf der Seele, heißt es. Oft geht es dabei um die Liebe.
Ja, der Haken ist: Selbst, wenn ich mit der heiß ersehnten Person eine Beziehung eingehe, wird das nicht die perfekte Liebe sein, weil es die nicht gibt. Da mag anfänglich Verliebtheit sein, doch irgendwann kommt der Alltag und man geht einander auf die Nerven. Schon sehne ich mich wieder nach etwas Neuem. Auch hier strebt man nach etwas, das niemals erreichbar ist. Die Sehnsucht nach perfekter Liebe bleibt trotzdem ein Dauerbrenner.
Ist Sehnsucht immer nur auf Zukünftiges gerichtet?
Nein, in Sehnsüchten werden auch sehr häufig Bezüge zur Vergangenheit hergestellt. Es handelt sich dabei aber nicht um Nostalgie. Ich sehne mich nicht nur nach einer Begebenheit in der Vergangenheit, sondern ich will das, was war, auch jetzt und in der Zukunft haben. Das macht den Unterschied: Sehnsucht hat was Drängendes, die Nostalgie hat das nicht.

Alexandra M. Freund

©Privat
Ein Gedicht von Fallersleben heißt „Sehnsucht nach dem Frühling“. Ist Sehnsucht mit bestimmten Jahreszeiten verknüpft?
Das haben wir nicht untersucht, aber von den Sehnsuchtsinhalten her würde ich das nicht behaupten. Was schon sehr häufig ist, ist die Orientierung an biografischen Jahrestagen. Ein Beispiel: Die Sehnsucht des Vaters, dessen Sohn verstorben ist, ist an dessen Geburtstag oder am Jahrestag des Todes besonders groß und stark ausgeprägt. Das wird dann bewusst zelebriert, um die Erinnerung an den Sohn lebendig zu halten. Es gibt aber abstrakte Sehnsüchte, wie etwa nach wärmeren Temperaturen. Die Menschen stellen sich dann gerne eine Insel vor, wie etwa Madeira. Angenehm warm, möglichst mit Bildern von Strand und blauem Meer. Das meint nicht den Frühling als Jahreszeit per se, sondern birgt Symbolisches. Unbeschwertheit zum Beispiel: Man muss keine dicken Sachen mehr tragen oder ist direkter mit der Luft und der Natur in Kontakt. Oft hat das mit der Idee von Freiheit zu tun – ich muss nichts, es geht alles wie von selbst, raus aus dem Hamsterrad.
Sie beschäftigen sich weiters mit dem „Bucket List“-Effekt. Da ist es modern geworden, Listen mit Wünschen, die man sich noch erfüllen möchte, zu formulieren. Auch eine Art Sehnsucht?
Die Bucket List ist viel konkreter als eine Sehnsucht. Es handelt sich um in die ferne Zukunft verschobene Ziele. Ich will was Verrücktes tun, etwa den Fallschirmsprung. Es sind auch alltägliche Sachen, die die Menschen verschieben, gar nichts Großartiges, etwa: Ich will endlich mal meinen Garten so richtig schön machen. Charakteristisch ist, dass verschoben wird, was ich jetzt schon gerne machen würde, aber nicht schaffe, weil die Zeit und die Gelegenheit fehlen.
Also verschiebt man’s in die Pension …
Genau, in die letzte Lebensphase. „To kick the Bucket“ heißt ja sterben. Bevor ich den Bucket kicke, möchte ich das und das noch machen. Dabei überlegt sich kaum jemand, ob man es dann noch kann oder will. Nur weil ich mir mit 40 vorgestellt habe, dass ich irgendwann mit dem Fallschirm aus einem Flugzeug springe, ist mitnichten klar, ob das mit 70 noch geht, oder ob ich das dann möchte. Im Unterschied zur Sehnsucht geht es hier um konkretere, oft kleinere Ziele, die aber eines Tages ihren Reiz verlieren könnten. Das Verschieben ist nur ein Mechanismus, mit dem ich mich zufriedenstelle, weil ich das Ziel gegenwärtig nicht verfolgen kann, verknüpft mit der Illusion, ich wäre später noch dieselbe Person, die dieselben Wünsche hat. Das ist eher unwahrscheinlich.
Ein Plädoyer für das Hier und Jetzt?
Ja, weil wir etwas verschieben, was unser Leben jetzt schon reicher machen würde. Deshalb wäre es sinnvoll, sich zu fragen, warum ich etwas, das mir so wertvoll erscheint, stets in die Zukunft verschiebe. Was es tatsächlich für mich bedeutet. Ähnliches gilt für die Sehnsucht. Sie kann darauf hinweisen, was mir im Leben fehlt. Ein Fingerzeig. Darüber nachzudenken, lohnt sich, weil ich über mich selbst nachdenke. Statt der utopisch-perfekten Liebe kann ich eine liebevolle Beziehung leben, die ich möglicherweise schon habe, aber nicht genug wertschätze und für die ich mehr tun müsste. Was die Bucket List betrifft: Mag sein, dass ich jetzt keine Weltreise machen kann, aber vielleicht geht was Kleineres. Ich kann mich fragen, welches Ziel mich besonders reizt und wie ich es schon jetzt erreichen könnte. Dann habe ich zwar nicht die ganze Welt gesehen, sondern das, was mir wirklich am Herzen lag.
Gabriele Kuhn

Über Gabriele Kuhn

Seit 1995 an Bord des KURIER - erst 14 aufregende Jahre lang als Ressorleiter-Stv. im Freizeit-Magazin, dann als Leiterin des Ressorts Lebensart. Seit 2017 Autorin. Kolumnistin. Interessens- und Know-How-Schwerpunkte: Medizin, Lifestyle, Gesundheit. Und Erotik. Die ironische Kolumne "Sex in der Freizeit" gibt es seit 2002. Damit's nicht fad wird, schreibe ich seit Anfang 2012 die Paar-Kolumne "Paaradox" gemeinsam mit Ehemann und Journalist Michael Hufnagl. 2014 wurde Paaradox zum Lesekabarett - mit Auftritten im Rabenhof und auf vielen Bühnen Ostösterreichs.

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