Ein Gedicht von Fallersleben heißt „Sehnsucht nach dem Frühling“. Ist Sehnsucht mit bestimmten Jahreszeiten verknüpft?
Das haben wir nicht untersucht, aber von den Sehnsuchtsinhalten her würde ich das nicht behaupten. Was schon sehr häufig ist, ist die Orientierung an biografischen Jahrestagen. Ein Beispiel: Die Sehnsucht des Vaters, dessen Sohn verstorben ist, ist an dessen Geburtstag oder am Jahrestag des Todes besonders groß und stark ausgeprägt. Das wird dann bewusst zelebriert, um die Erinnerung an den Sohn lebendig zu halten. Es gibt aber abstrakte Sehnsüchte, wie etwa nach wärmeren Temperaturen. Die Menschen stellen sich dann gerne eine Insel vor, wie etwa Madeira. Angenehm warm, möglichst mit Bildern von Strand und blauem Meer. Das meint nicht den Frühling als Jahreszeit per se, sondern birgt Symbolisches. Unbeschwertheit zum Beispiel: Man muss keine dicken Sachen mehr tragen oder ist direkter mit der Luft und der Natur in Kontakt. Oft hat das mit der Idee von Freiheit zu tun – ich muss nichts, es geht alles wie von selbst, raus aus dem Hamsterrad.
Sie beschäftigen sich weiters mit dem „Bucket List“-Effekt. Da ist es modern geworden, Listen mit Wünschen, die man sich noch erfüllen möchte, zu formulieren. Auch eine Art Sehnsucht?
Die Bucket List ist viel konkreter als eine Sehnsucht. Es handelt sich um in die ferne Zukunft verschobene Ziele. Ich will was Verrücktes tun, etwa den Fallschirmsprung. Es sind auch alltägliche Sachen, die die Menschen verschieben, gar nichts Großartiges, etwa: Ich will endlich mal meinen Garten so richtig schön machen. Charakteristisch ist, dass verschoben wird, was ich jetzt schon gerne machen würde, aber nicht schaffe, weil die Zeit und die Gelegenheit fehlen.
Also verschiebt man’s in die Pension …
Genau, in die letzte Lebensphase. „To kick the Bucket“ heißt ja sterben. Bevor ich den Bucket kicke, möchte ich das und das noch machen. Dabei überlegt sich kaum jemand, ob man es dann noch kann oder will. Nur weil ich mir mit 40 vorgestellt habe, dass ich irgendwann mit dem Fallschirm aus einem Flugzeug springe, ist mitnichten klar, ob das mit 70 noch geht, oder ob ich das dann möchte. Im Unterschied zur Sehnsucht geht es hier um konkretere, oft kleinere Ziele, die aber eines Tages ihren Reiz verlieren könnten. Das Verschieben ist nur ein Mechanismus, mit dem ich mich zufriedenstelle, weil ich das Ziel gegenwärtig nicht verfolgen kann, verknüpft mit der Illusion, ich wäre später noch dieselbe Person, die dieselben Wünsche hat. Das ist eher unwahrscheinlich.
Ein Plädoyer für das Hier und Jetzt?
Ja, weil wir etwas verschieben, was unser Leben jetzt schon reicher machen würde. Deshalb wäre es sinnvoll, sich zu fragen, warum ich etwas, das mir so wertvoll erscheint, stets in die Zukunft verschiebe. Was es tatsächlich für mich bedeutet. Ähnliches gilt für die Sehnsucht. Sie kann darauf hinweisen, was mir im Leben fehlt. Ein Fingerzeig. Darüber nachzudenken, lohnt sich, weil ich über mich selbst nachdenke. Statt der utopisch-perfekten Liebe kann ich eine liebevolle Beziehung leben, die ich möglicherweise schon habe, aber nicht genug wertschätze und für die ich mehr tun müsste. Was die Bucket List betrifft: Mag sein, dass ich jetzt keine Weltreise machen kann, aber vielleicht geht was Kleineres. Ich kann mich fragen, welches Ziel mich besonders reizt und wie ich es schon jetzt erreichen könnte. Dann habe ich zwar nicht die ganze Welt gesehen, sondern das, was mir wirklich am Herzen lag.
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