Bühnenphänomen Poetry Slam: Hier beweist die TikTok-Generation ihre Lust auf Poesie

Vom kleinen Szene-Event hat sich der Literaturwettkampf zum Großereignis gemausert. Das spricht vor allem die junge Generation an.

Als alles vorbei und die Schlacht geschlagen ist, wird der Sieger von einem Kollegen in die Luft gehoben, reckt den Siegesstock in die Höhe, sagt „Leute, ey, ich weiß nicht, was ich sagen soll“, dankt allen, die dabei waren und erntet Standing Ovations. Im Wiener Burgtheater fand vergangene Woche das Finale der 26. deutschsprachigen Meisterschaften im Poetry Slam statt und das wollten sich viele, von jung bis nicht ganz so jung, keineswegs entgehen lassen: Die Burg war ausverkauft, die Eröffnungsrede hielt per Videobotschaft der Bundespräsident und die Endausscheidung bot ein buntes Repertoire an Texten.

Von Männershampoo und Panikattacken wurde da wortspielerisch lustvoll berichtet; von Existenzängsten, und, in einer Wendung zum Schluss hin mit der Selbstoffenbarung: „Ich schäme mich nicht, Opfer von sexueller Gewalt zu sein und schäme mich auch nicht, dass ich euch das gerade gesagt hab“; dann wieder hörte man die ironisch-subtile Annäherung zweier junger Liebender bei einem Date zu Weihnachten, und, an anderer Stelle, wie tödlich zurückgelassen es sich anfühlt, wenn „ein 18-jähriger Mann zum Schluss kommt, einen Schlussstrich zu ziehen“. Am Ende gewinnt Florian Wintels – ein 29-jähriger Dichter aus Niedersachsen, mit einer witzig-überdrehten Liebeserklärung an die Poetry-Slam-Szene: Applaus und Sprechchöre.

Ob intimes persönliches Bekenntnis, komödiantisches Sprachtohuwabohu oder scharfe Gesellschaftskritik: Poetry Slam kann alles sein. Auf die Bühne kommt, was auf der Zunge brennt. Vom Hass auf die eigene Mutter bis zum Verlust der Geduld, von Alltagsbegebenheiten bis Gesellschaftskritik, von pathetisch bis sarkastisch, ob gereimt oder geflüstert, beweist eine junge Generation ihre Lust auf Poesie. Und garantiert einen bunten Abend.

Die Regeln sind einfach zu verstehen: Ein vorgetragener Text muss selbst geschrieben sein und darf nicht länger als sechs Minuten dauern (bei einer Meisterschaft). Die Poeten dürfen sich nicht verkleiden, das Clownskostüm gilt es also zuhause zu lassen. Requisiten sind verboten. Singen ist zu „49 Prozent des Beitrags“ erlaubt, Rappen oder Beatboxen dafür durchgehend. Mitmachen? Kann jeder, der möchte.

Text oder Performance

„Die jüngste Teilnehmerin, an die ich mich erinnern kann, war elf Jahre alt“, erzählt Yasmin Hafedh. „Und der älteste in seinen Siebzigern.“ Die unter ihrem Künstlernamen Yasmo bekannte österreichische Rapperin sitzt backstage im grell beleuchteten Schminkraum des Konzertsaals MuTh am Augarten. Das Meisterschaftshalbfinale findet heute hier statt.

Yasmo steht unter Strom. Das Handy mag nicht aufhören zu bimmeln, es gilt Gäste zu begrüßen, Abläufe zu besprechen. Die 32-Jährige mit dem optimistischen Lächeln ist seit 2007 fixer Bestandteil der Poetry-Slam-Szene und ganz nah dran am Geschehen. Sie organisiert Slams, leistet Nachwuchsarbeit, leitet Poesie-Workshops an Schulen. Auch bei den Meisterschaften in Wien arbeitete sie an der Durchführung mit, das Finale moderierte sie.

Was wichtiger sei für einen gelungenen Auftritt, Text oder Performance? Die Rap-Poetin grübelt, so ganz beantworten könne man das nicht. Tagesverfassung, Stimmung, Publikum, auf viele Faktoren käme es da an. Zu sagen ließe sich aber dies: Ein Text, der nicht vollends ausgereift sei, könne mit einer guten Performance veredelt zu größerem Erfolg führen als umgekehrt.

Kunst und Noten

Wie messbar dieser Erfolg überhaupt sein müsse, wird immer wieder debattiert. Einerseits weil die Jury-Benotung an Unterhaltungsformate im TV erinnere. Andererseits weil sie dem Motto widerspricht, man mache Literatur von allen für alle, ohne die Zugangsbeschränkungen, für die sonst Buchverlage und Zeitungsfeuilletons sorgen – und dann setze es erst recht Noten von eins bis zehn.

Auch Yasmo möchte Kunst eigentlich nicht bewerten. Die Noten sieht sie dennoch nicht als Widerspruch, sagt sie. Sie wären einst in den USA entstanden, der Wettbewerbscharakter sollte die Zahl der Anmeldungen eindämmen. Außerdem hole man so die Zuschauer mit ins Boot: „Das Publikum darf bei uns mitsprechen, Punkte vergeben und fühlt sich dadurch gesehen.“

Entstanden ist Poetry Slam 1986 in Chicago. Dem Performance-Poeten Marc Kelly Smith waren die klassischen Dichterlesungen mit ihrem stets etwas leicht betretenen Ambiente aus knarrenden Sesseln und Wasserglas am Lesetischchen ein großer Graus. Seine neue Idee kam an. Von den USA aus breitete sich das Underground-Phänomen schnell aus. Poetry Slam, das galt als so cool wie MTV oder der wollbewestete Kurt Cobain mit den strähnigen Haaren: noch nicht für den kulturellen Feinspitz aufbereitet, ohne Lack, intensiv, innovativ, ganz nah dran am Publikum und vor allem das: jung.

Erster Slam in Innsbruck

Die deutschsprachige Slam-Community gilt als eine der größten der Welt. 1997 fand die erste Meisterschaft in Berlin statt. In Österreich feierte man kürzlich das 20-jährige Jubiläum des dienstältesten Poetry Slams, der hierzulande über die Bühne ging: Im Lokal Bierstindl in Innsbruck kam damals nahe der Berg-Isel-Schanze die erste Slam-Generation zusammen. Den Event gibt es immer noch, jeden letzten Freitag im Monat, wurde allerdings mittlerweile in das Lokal Die Bäckerei verlegt. Einzig in Wien fand damals noch ein Slam statt, im Vorzimmer eines Wiener Programmkinos.

Heute ist Poetry Slam ein breitenwirksames Event mit hunderten Zuschauern, von der Kleinbühne bis zum Burgtheater. Doch dafür war jahrelange Aufbauarbeit – etwa von Mieze Medusa, Julia Köhle und ihrem Bruder Markus Köhle – und viel Herzblut notwendig. 2010 professionalisierte das Veranstaltungkollektiv FOMP die Szene. Seitdem gibt es auch Abende wie Powerpoint-Karaoke, bei denen ahnungslose Referenten Vorträge halten müssen, von denen sie keine Ahnung haben, oder Österreichs einzige Lese-Mal-Bühne, bei der vorgelesene Texte von einem bildenden Künstler begleitet werden.

Das alles auf die Beine zu stellen, erfordert viel Arbeit für wenig Geld. Wie schwierig es ist, Leute davon zu überzeugen, einem Geld zu geben, wenn alles, was man verkauft, ein Gefühl ist, darüber schreibt Janea Hansen in „20.000 Zeilen unter dem Meer“, einer neuen Anthologie über die österreichische Poetry-Slam-Szene (hrsg. von Francesca Herr und Henrik Szanto, Lektora Verlag).

Sie sei 31 Jahre alt, so Hansen, und organisiere mit der Poetry-Slam-Meisterschaft Europas größtes Bühnenfestival mit. Dennoch müsse sie 20 Stunden pro Woche im Buchhandel arbeiten, weil sie nur so Geld verdient und krankenversichert ist. Anders gehe es nicht. Dennoch überwiegt der Stolz. „Man hat sich irgendwann mal dafür entschieden, Kultur zu machen“, so Hansen. „Weil Kunst schön ist und schöne Dinge sind schön.“

Die Stimme einer Generation

Und sie ermöglicht bemerkenswerte Karrieren. Marc-Uwe Kling ist wohl der bekannteste Sieger einer deutschsprachigen Meisterschaft. 2006 und 2007 gewann der Deutsche, heute ist er mit seinen „Die Känguru-Chroniken“ Bestseller-Autor, dieses Jahr kam die zweite Verfilmung heraus.

Julia Engelmann spielte in der RTL-Fernsehserie „Alles was zählt“. Seit sie 2013 mit ihrem Poetry Slam „Eines Tages, Baby“ auf YouTube viral ging, begeistert sie Millionen, hat sieben Bücher geschrieben, geht auf Tour mit ihren Songs und wird sogar als „Stimme ihrer Generation“ gefeiert. Auch manch bekannter Österreicher stand schon auf einer Slam-Bühne.

Die scharfzüngige Kabarettistin Lisa Eckhart war 2015 österreichische Meisterin. Paul Pizzera trat auf mehr als 100 Festivals im In- und Ausland auf. Weniger bekannt dagegen ist ein Auftritt von Wanda-Sänger Marco in Wien: Er wurde der Bühne verwiesen, weil er sich ausgezogen hatte.

Alexander Kern

Über Alexander Kern

Redakteur KURIER Freizeit. Geboren in Wien, war Chefredakteur verschiedener Magazine, Gründer einer PR- und Medienagentur und stand im Gründungsteam des Seitenblicke Magazins des Red Bull Media House. 12 Jahre Chefreporter bzw. Ressortleiter Entertainment. Schreibt über Kultur, Gesellschaft, Stil und mehr. Interviews vom Oscar-Preisträger bis zum Supermodel, von Quentin Tarantino über Woody Allen bis Jennifer Lopez und Leonardo DiCaprio. Reportagen vom Filmfestival Cannes bis zur Fashionweek Berlin. Mag Nouvelle Vague-Filme und Haselnusseis.

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