Neues von Rammstein: Geisterbahnfahrt durch die geschundene Männerseele

Das neue Album „Zeit“ erscheint heute.

Wenn alles wirklich schon so egal ist, dass man einen echten Krieg mit dem Kampf gegen fiktive Schwule und fiktive Nazis, und fiktive schwule Nazis, begründen kann, ohne mit Höllengelächter vertrieben zu werden, dann kommt man in eine verzwickte Popkultur-Lage: Man beginnt froh zu sein, dass es Rammstein gibt.

Denn bitter nötig wie kaum je zuvor hat man deren Schmierentheater, mit dem sie seit einem Vierteljahrhundert die Dodelei des Faschismus vorführen: Mit dicken Muskeln, noch dickeren Gitarrentönen und noch noch dickerer Betonlyrik lädt die Band zur Geisterbahnfahrt durch brodelnde Männerseelen.

Zivilisationsfolie

Verkleidet als kaputte Knallchargen mit Fetischproblemen sind sie also dort unterwegs, wo – man sieht es in Russland und im Internet – die Weltgeschichte sich zugleich aufgeilt, gekränkt fühlt und verblödet.

Auch auf ihrem heute erscheinenden neuen Album „Zeit“ hieven sie wieder von ganz unten verlässlich das herauf, was man sonst mit der dünnen Zivilisationsfolie notdürftig zusammenzuhalten versucht: Ödipus und andere sexuelle Devianzen („dicke Titten“!), Sprachgewalt und Gewaltsprachen, Sterbenslust und die geile Angst vor Ausländern, dank der in der Nacht im Bett zumindest irgendwas mit einem passiert.

Das alles wird im musikalischen Stechschritt abmarschiert, als würden hier noch Tabus gebrochen. Als würde sich nicht inzwischen jeder gescheiterte Meinungsmacher auf Facebook an die Brust heften, als letzter echter Mann gegen das politisch Korrekte aufzubegehren.

Und weil das alles so herrlich gaga ist, was Rammstein da am Tablett präsentieren, man aber sonst nicht so recht weiß, ob man über die Menschen da draußen lachen darf, die das ernst meinen, hilft es ein bisschen.

Herzlich amüsiert man sich über die Ernsthaftigkeit, mit der über das letzte Abenteuer des ganz kleinen Mannes – ohne Kondom bei der Sexarbeiterin! – gesungen wird. Es gibt die ewig gleichen Gitarrentöne zum fröhlichen Mitnicken bei der in ihren Grundfesten erschütterten Männeremotion.

©jens koch

Und ja, man würde sogar gerne sagen: Rammstein ist in dieser irrsinnigen Welt da draußen ein bisschen ein humanistisches Projekt geworden. Geschundene Seelen sind wir alle, und wer vom anderen und sich selbst die tiefsten Widerlichkeiten weiß, der tut sich schwer damit, den Hass ehrlich zu meinen. Die im ersten Song besungene „Armee der Tristen“ kämpft eh gegen sich selbst, da muss man nicht auch noch andere umbringen.

Auch auf die Gefahr hin, dass das ins Klappern geratene Rammstein-Gestell unter so viel Aufladung zusammenbricht: Jetzt, wo der Faschismus wieder „den Anderen“ abknallt, und auch auf Social Media – eine brutale Gleichmachermaschine! – jede minimale Abweichung mit Shit und Sturm bestraft wird, ist es Gebot der Stunde, sich derartige Nischen der Narretei gesellschaftlich zu bewahren. Rammstein sind ein Test der Toleranz gegen uns selbst geworden, den wir besser bestehen sollten. Sonst gilt bald nur noch der eine Satz vom neuen Album: „Der einzige Trost sind kleine Hunde.“ Und wer weiß, wie das gemeint ist.

Georg Leyrer

Über Georg Leyrer

Seit 2015 Ressortleiter Kultur und Medien, seit 2010 beim KURIER, seit 2001 Kulturjournalist. Zuständig für alles, nichts und die Themen dazwischen: von Kunst über Musik bis hin zur Kulturpolitik. Motto: Das Interessanteste an Kultur ist, wie sie sich verändert.

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