Hass im Netz

Welche Dynamiken hinter Hass im Netz stecken

Digitale Gewalt. Übergriffe nehmen zu, oft treffen sie Frauen. Johanna Enzendorfer vom Verein "Frauen beraten Frauen" im Interview.

Gewalt – ein zentrales Thema für die Beraterinnen des Vereins "Frauen beraten Frauen". "Seit einigen Jahren bemerken wir, dass Übergriffe und Gewalt verstärkt im digitalen Raum stattfinden", sagen sie. Ein neues, noch wenig vertrautes Thema. Deshalb hat der Verein nun ein erklärendes Handbuch entwickelt – Titel: "Ist das schon digitale Gewalt?" Wir sprachen mit Johanna Enzendorfer, Sozialarbeiterin und Mitautorin.

Digitale Gewalt hat viele Gesichter – welche?

Johanna Enzendorfer: Insgesamt verstehen wir darunter menschen-, bzw. frauenverachtende Handlungen im digitalen Raum. Die häufigsten Beispiele: Hassrede, in Form beschämender, urteilender, meist sexistisch motivierter Äußerungen, oft anonym, meist von Gruppierungen ausgehend. Zur digitalen Gewalt zählt auch alles, das im Kontext von Onlinedating, Übergriffen und Grenzüberschreitungen passiert. Bis hin zu Gewalt im sozialen Nahraum, adäquat zum echten Leben – in Form von Drohungen, Stalking oder Beschämungen nach Trennungen.

Hier mehr lesen: Prägen Gene oder Umwelt? Warum Zwillinge so faszinieren

Welchen Dynamiken folgt digitale Gewalt?

Sexistische Machtverhältnisse und geschlechtsspezifische Diskriminierung der Offline-Welt werden online fortgesetzt. Im Netz ist der enthemmende Faktor größer, weil es an Kontrollmechanismen und rechtlichen Regelungen fehlt, um gegen Übergriffe vorzugehen. Die Anonymität beeinflusst die Sprache, sie wird viel schneller aggressiv als in der Offline-Welt. Anonyme Angreifer auszuforschen ist schwierig. Eine bedeutende Rolle spielt außerdem die enorme Verbreitungsgeschwindigkeit. Wenn etwa ein intimes Bild gegen den Willen der Abgebildeten geteilt wird, geht das alles sehr schnell.

Welche Rolle spielen Algorithmen bei der Verbreitung von Gewalt ? 

Polarisierende Beiträge bekommen viel mehr Likes und Kommentare, das gefällt den Algorithmen, sie produzieren dann mehr Reichweite.

Was sind die Verstärker und Gründe für Hass im Netz? 

Das Internet ist mittlerweile der beliebteste Ort für Meinungsäußerung und Meinungsverhandlung, gleichzeitig hinkt der gesetzliche Schutz nach. Die Entwicklungen sind rasant, Sanktionen fehlen. Immer dann, wenn es keine gesellschaftspolitische Ablehnung von Gewalt gibt, keine institutionelle, gesetzliche Sanktionierung, werden Übergriffe möglich.

Und die individuellen Motive dahinter?

Manchen Menschen geht es um Aufmerksamkeit, es passiert aus Langeweile. Oft aber auch wegen des Glaubens an den Erhalt oder an die (Wieder-)Herstellung eines bestimmten gesellschaftlichen Zustands, wie es bei manchen Gruppierungen üblich ist.

Hier mehr lesen: Britney Spears, Beckhams, Harry: Wann man beichten oder schweigen soll

Frauen sind besonders von digitaler Gewalt betroffen.

Definitiv. Eine Langzeitstudie der englischen Tageszeitung Guardian hat zehn Jahre lang die Reaktionen auf Onlineartikel von Journalistinnen analysiert. Es zeigte sich, dass Hasspostings zu einem überwiegenden Teil gegen weibliche Journalisten gerichtet waren. Vermehrt betroffen sind auch Frauen, die sich gesellschaftskritisch kontrovers äußern oder eine öffentliche Position einnehmen, von der aus sie ihre Meinung kundtun.

Welche Auswirkungen hat digitale Gewalt auf die Psyche, die Meinungsvielfalt, die Demokratie?

Es ist nicht zwischen digitaler Gewalt und anderen Formen der Gewalt zu unterscheiden. Die Auswirkungen sind bei allen Gewaltformen gleich gravierend. Betroffene leiden unter Stress, Schlafstörungen, psychosomatischen Beschwerden. Es kommt zu einem Gefühl des Kontrollverlusts über die Darstellung der eigenen Person. Das erzeugt Ohnmacht. Sehr problematisch ist das "Silencing": Betroffene ziehen sich aus dem digitalen Raum zurück. Es fehlt eine Stimme, im Sinne demokratischer Beteiligung, während sich die aggressive Minderheit durchsetzt und den Diskurs dominiert.

Was raten Sie Betroffenen?

Als Erstmaßnahme empfiehlt sich ein kurzer Rückzug aus dem digitalen Raum, um aufzutanken. Allerdings sollte er nicht von Dauer sein, um den Raum nicht anderen zu überlassen. Ich rate jedem, darüber zu sprechen – im Rahmen einer Beratung oder Therapie. Das kann sehr unterstützen. Hilfreich ist es auch, sich Wissen anzueignen, über die Dynamiken des Netzes und rechtliche Maßnahmen. Man kann Anzeige erstatten und hat ein Recht darauf, dass Inhalte gelöscht werden, man kann Übergriffe melden, Personen blockieren oder ignorieren. Dokumentation ist empfehlenswert – da reichen Screenshots mit Metadaten, Ort, Zeit, Medium.

Was können Zeugen von Übergriffen im Netz tun?

Zum Beispiel – für alle sichtbar – schreiben, dass etwas übergriffig oder aggressiv war. Gegenrede betreiben, die sich an Mitlesende und nicht an den Angreifenden richten sollte, das wäre kontraproduktiv. Man kann Betroffene direkt anschreiben und Hilfe anbieten. Außenstehende können Übergriffe melden.

Was fordern Sie in Bezug auf digitale Gewalt?

Wie bei vielen gesamtgesellschaftlichen Themen ist mehr sensibilisierende Öffentlichkeitsarbeit wichtig. Auf allen Plattformen, an alle Zielgruppen gerichtet, hinweisen, wann etwas ein Übergriff und grenzüberschreitend ist. So wie in der analogen Welt bräuchte es sofortigen Schutz und Einschreiten. Wichtig wäre auch, dass bei neuen Entwicklungen, etwa Apps, von Anfang an Schutz vor Missbrauch oder Übergriffen berücksichtigt wird. Die Sicherheitseinstellungen müssten besser ausgebaut werden – etwas, das hinterherhinkt. Ein umfassenderes Monitoring wäre bedeutend – im Sinne vernetzter Meldestellen, in Kooperation mit der Polizei. Außerdem sollte die Beweissicherungspflicht nicht bei den Betroffenen liegen, sondern bei den Behörden.

Fakten

Handbuch "Digitale Gewalt"
Das Buch "Ist das schon digitale Gewalt?" zum Download: 
frauenberatung.gv.at/informationen; gewaltinfo.at

"Lauter Hass, leiser Rückzug" lautet der Titel einer neuen deutschen Studie, durchgeführt im Rahmen des Kompetenznetzwerks gegen Hass im Netz. 

Einige Ergebnisse: 

  • 49 Prozent der Befragten wurden schon einmal online beleidigt. 
  • Besonders betroffen sind zum Beispiel Personen mit sichtbarem Migrationshintergrund und junge Frauen. 
  • Fast jede zweite junge Frau erhielt bereits ungefragt ein Nacktfoto.
Gabriele Kuhn

Über Gabriele Kuhn

Seit 1995 an Bord des KURIER - erst 14 aufregende Jahre lang als Ressorleiter-Stv. im Freizeit-Magazin, dann als Leiterin des Ressorts Lebensart. Seit 2017 Autorin. Kolumnistin. Interessens- und Know-How-Schwerpunkte: Medizin, Lifestyle, Gesundheit. Und Erotik. Die ironische Kolumne "Sex in der Freizeit" gibt es seit 2002. Damit's nicht fad wird, schreibe ich seit Anfang 2012 die Paar-Kolumne "Paaradox" gemeinsam mit Ehemann und Journalist Michael Hufnagl. 2014 wurde Paaradox zum Lesekabarett - mit Auftritten im Rabenhof und auf vielen Bühnen Ostösterreichs.

Kommentare