Hasskommentare, Krieg, Klimaschutz: Wenn Mode zum Nachdenken anregt
Mit Inszenierungen auf dem Laufsteg und Botschaften auf ihrer Kleidung machen Designer auf Missstände aufmerksam.
Bananenschalen, Dosen, Kaffeebecher und Eier: Damit wurden die Models bei der Modeschau des Labels Avavav kürzlich in Mailand beworfen. Aber nicht weil den Zuschauern der Stil nicht gefiel, vielmehr wurden die Wurfgegenstände zuvor ans Publikum verteilt.
Kreativdirektorin Beate Karlsson selbst hatte die Idee dazu. Der Müll auf dem Laufsteg sollte die Hasskommentare über das Label im Netz widerspiegeln. Die Mode wurde dort als „überbewertet“ und „Müll“ bezeichnet. Jetzt mussten die Zuschauer echten Abfall auf die Models werfen. „Wir zeigen diesen Online-Hass, aber bei der Show sieht man ihn als sehr reale Aggression“, so die Designerin.
Beate Karlsson vermittelt mit dieser Aktion eine klare Botschaft – kein Besucher würde mit dieser Brutalität seine Kritik verbal äußern. Ein aktuelles Beispiel wie Mode aufrütteln und auf eine bedenkliche gesellschaftliche Entwicklung hinweisen kann.
Die Mode-Anarchistin
Die 2022 verstorbene Designerin Vivienne Westwood war das Paradebeispiel dafür, wie Mode und Aktivismus zusammenspielen. Sie sorgte nicht nur mit ihren schrillen Outfits für Aufsehen, sondern verpackte auch Kritik an sozialen Problemen in ihre Shows und trat als Aktivistin für den Umwelt- und Klimaschutz ein.
In der Dokumentation „Punk, Icon, Activist“ sagte ihr Ehemann und Co-Designer Andreas Kronthaler: „Sie mag es, wenn Kleidung eine Botschaft hat.“ Vivienne Westwood rief auch immer wieder dazu auf, weniger zu konsumieren und Kleidungsstücke länger zu tragen. Auch ihre eigene Mode. Ganz im Gegensatz zum Selbstverständnis der Branche. Denn in der Modeindustrie dreht sich noch immer alles um den Konsum.
Soziale Verantwortung
Sind sich die Modelabels ihrer gesellschaftlichen Verantwortung überhaupt bewusst? Die beiden Professoren Caroline Ardelet und Benjamin Simmenauer vom Institut Français de la Mode haben diesen Aspekt in einer Studie beleuchtet. Ihr Fazit: Modelabels stehen unter einem neuen gesellschaftlichen Druck insbesondere durch die sozialen Netzwerke. „Unternehmen und ihre Führungskräfte haben die Verantwortung, sich zu sozialen und politischen Themen zu äußern“, heißt es in der Studie.
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Um heute als glaubwürdig zu gelten, darf der Aktivismus keine leere Worthülse sein, es muss aufrichtiges Engagement dahinterstecken. Das sieht auch Monica Titton, Modetheoretikerin an der Universität für angewandte Kunst, so: „Die immer häufiger stattfindenden politischen Stellungnahmen von Designern sind eine äußerst positive Entwicklung. Sie stellen sich endlich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung.“ Kritische Konsumenten würden zurecht von Modelabels mehr verlangen, als nur politische Slogans auf T-Shirts oder Sweatshirts zu drucken.
Glaubwürdigkeit zählt
Monica Titton: „Werden Slogans nur verwendet, um Aufmerksamkeit zu generieren, wird den Labels der Vorwurf des ‚pinkwashing‘ oder des ,greenwashing‘ gemacht.“ Und der nächste Shitstorm wartet schon im Netz. Doch auch die Konsumenten sind in der Verantwortung: Denn Designerstücke mit gesellschaftskritischen Botschaften und brisanten Statements verkaufen sich auch gut.
Das Modelabel Dior hatte 2017 zum Beispiel ein Shirt mit der Aufschrift „We Should All be Feminists“ im Programm. Auch Stella McCartney präsentierte in ihrer aktuellen Kollektion einen Pullover mit dem Slogan „Change the History“. Beide Designerinnen stehen jedoch auch persönlich für diese Statements. Die Italienerin Maria Grazia Chiuri ist seit 70 Jahren die erste Frau an der Spitze von Dior und setzt sich persönlich für Frauenrechte ein. Stella McCartney ist seit Beginn ihrer Karriere ein Aushängeschild für Tierwohl und Nachhaltigkeit.
Krieg bei Balenciaga
Glaubwürdigkeit vermittelt auch Demna Gvasalia, kreatives Mastermind von Balenciaga. Bei seiner Herbst/Winter 2023 Show thematisierte der aus Georgien stammende Designer den Ukraine-Krieg. Er selbst ist mit 12 Jahren nach Deutschland geflüchtet.
Seine Models schickte Demna mit Plastiksäcken in den Händen durch einen künstlichen Schneesturm. Diese beklemmende Flüchtlingsszenerie lässt auch hartgesottene Modefans nicht kalt. Selma Hayek, Schauspielerin und Ehefrau des Kering-Vorsitzenden Francois-Henri Pinault, zu dessen Imperium auch Balenciaga zählt, sagte nach der Show: „Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich in einer Modeschau geweint.“
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