Bürgerschreck

Hans Neuenfels 1941–2022: So ein brillanter Bastard

Der Regisseur hinterlässt Beispielloses in der deutschsprachigen Bühnengeschichte.

Wo er war, da war Skandal. Hans Neuenfels hatte sich das Image des Bürgerschrecks erarbeitet, der Traditionalisten verstörte, ehe sie noch ein einziges von ihm inszeniertes Bild gesehen hatten. Wer nur Klassisches akzeptiert, buht bei einer Neuenfels-Regie prophylaktisch.

Wo er war, da war aber auch Qualität. Hans Neuenfels schaute genauer hin als viele andere Regisseure, präziser in den Originaltext, um daraus seine Schlüsse für die Gegenwart zu ziehen. Ohne Bezug zur heutigen Zeit kann es kein Theater geben, davon war er überzeugt.

Wo er war, da war Analyse, da war Anti-Konvention, da war Geist – und wohl auch allzu oft Hochgeistiges und Nikotin. Am Sonntag ist Hans Neuenfels, geboren in Krefeld, später einer der zentralen Köpfe der Post-68er-Generation, einer der Erneuerer des Theaters in Deutschland (und auch in Österreich) 80-jährig in Berlin gestorben. Wie so mancher, der auf der Bühne provoziert und als radikal gilt, war auch er im persönlichen Umgang ein (humanistisch) höchstgebildeter, sensibler, faszinierender, weltoffener, kluger Zeitgenosse. Noch in vielen Jahren wird man von ihm und von seinen Arbeiten reden.

In Salzburg vielleicht sogar noch in Jahrzehnten: Dort inszenierte er 2001 die vorletzte Premiere der Intendanz von Gérard Mortier, „Die Fledermaus“ von Johann Strauß. Elisabeth Trissenaar, seine Frau, die er am Max-Reinhardt-Seminar in Wien kennengelernt hatte, spielte den Frosch. Und David Moss, ein schriller Vokalkünstler mit einer völlig unopernhaften Stimme, war Prinz Orlofsky. Auf der Bühne der Felsenreitschule wurde gekokst statt getrunken, es gab Nazi-Uniformen und Sado-Maso-Szenen. Zahlreiche Besucher waren so empört, dass sie, aufgestachelt von Marcel Prawy, gerichtlich ihr Geld zurückforderten, weil das mit der originalen „Fledermaus“ nichts mehr zu tun hätte. Dabei hatte Neuenfels auch da nur hinterfragt, wie ein Tanz auf dem Vulkan in der Gegenwart aussähe.

©APA/HERBERT NEUBAUER

Wagner im Rattenlabor

Ähnlich wie in Bayreuth, wo Neuenfels 2010 „Lohengrin“ mit einem Rattenchor auf die Bühne brachte. Die Edlen von Brabant als kollektive Ja-Sager und im Versuchslabor – ein Aufschrei am Grünen Hügel. Auch der Autor dieser Zeilen fand die Premiere schrecklich, um Jahre später die Kraft dieser Arbeit zu erkennen.

So war es oft bei Neuenfels: Er war mit seinen Gedanken und seiner interpretatorischen Kraft voraus. So bereits 1980 in Frankfurt, als er Verdis Aida als Putzfrau zeigte, eine starke Metapher in Hinblick auf Abhängigkeit und Unterdrückung im fremden Haushalt.

Begonnen hatte der mit den höchsten Auszeichnungen gekürte Regisseur, Intendant (Freie Volksbühne Berlin) und Filmemacher eigentlich beim Sprechtheater, wo er zuletzt durchaus altersmilde wieder verstärkt arbeitete, sogar im Theater in der Josefstadt. Aber auch im Opernbereich verschreckte er weiterhin Stars, etwa Anna Netrebko, die sich 2014 in München aus „Manon Lescaut“ zurückzog – obwohl es dafür keinerlei Grund mehr gab. An der Wiener Staatsoper sah man zuletzt 2020 seine in die Jahre gekommene und immer noch aktuelle „Entführung aus dem Serail“, ursprünglich für Stuttgart entwickelt.

Die beste Einführung in seine Gedankenwelt ist sein autobiografisches „Bastardbuch“. Als Formulierungskünstler war er ebenso begabt wie in seinen Bühnenarbeiten.

Gert Korentschnig

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