Der Landstrich der Höhen und Tiefen zwischen Nizza und Provence
Zwischen der Mittelmeerküste bei Nizza und der lavendelvioletten Provence gähnen die gewaltigen Schluchten des Verdon.
Es ist, als ob sich plötzlich der Erdboden aufgetan hätte: In der Landschaft klafft ein siebenhundert Meter tiefer Riss. Das wahre Ausmaß erkennt nur, wer dicht an die Kante tritt (Schwindelfreiheit vorausgesetzt!), um in die nahezu senkrechte Schlucht zu blicken. Anderenfalls meint man, die karstigen Berge gehen nahtlos ineinander über. Die Gorges du Verdon (Schluchten des Verdon) in der südfranzösischen Provence sind nach der Tara- Schlucht in Montenegro am zweittiefsten in Europa.
Der spektakuläre Abgrund liegt zwar nur fünfzig Kilometer Luftlinie vom mondänen Nizza entfernt, doch der Kontrast – sowohl zum Mittelmeer als auch zur typischen Provence mit ihren Lavendelfeldern – könnte nicht krasser sein.
Der Grand Canyon Frankreichs
Der Verdon entspringt in den französischen Seealpen und fließt ungestüm über hundertsiebzig Kilometer dahin. Zwischen dem Ort Castellane und dem Lac de Sainte-Croix grub er den zweiundzwanzig Kilometer langen „Grand Canyon Frankreichs“. Die bizarre Landschaft aus zerfranstem Kalkstein (seit 1997 Nationalpark) entstand in der Frühzeit (Trias) durch tektonische Verschiebungen und die Hebungen und Senkungen des Urmeers Tetris. Dank des günstigen Klimas war die Gegend bereits vor vierhunderttausend Jahren bewohnt. Archäologen entdeckten mehr als sechzig prähistorische Wohnhöhlen und Stätten, wie das sehenswerte Musée de Préhistoire des Gorges du Verdon im Örtchen Quinson lehrt.
Ausflugstipp: Musée de Préhistoire
Ehe Teile des ursprünglichen Verdon-Canyons für immer im aufgestauten Wasser versanken, entdeckten Archäologen mehr als 60 prähistorische Stätten. Diese werden im hochinteres- santen Erlebnismuseum in Quinson dokumentiert, die vorgeschichtliche Besiedlung der Provence wird interaktiv erzählt.
Seine heutige vielfältige Ausprägung bekam die Landschaft erst 1973: Um die Launen des wilden Flusses zu zähmen und die Kraft der Gewässer für die Stromgewinnung zu nutzen, wurde der Verdon mit fünf Dämmen aufgestaut. So entstand nicht nur der verblüffend türkisblaue, zweiundzwanzig Quadratkilometer große, kreuzförmige Wasserspiegel des Lac de Sainte-Croix (der hohe Fluorgehalt ist Grund für die intensive Färbung), sondern zusätzlich zur natürlichen Hauptschlucht zwei kleinere Canyons sowie ein See, der Lac de Castillon am Oberlauf.
Das alles ist eine großartige Spielwiese für Wasserratten und Bergfexen aller Art, die Gorges lassen sich auf verschiedenste Arten erlebt. Etwa aus der Adler-Perspektive: Oberhalb des hübschen Dorfes Aiguines und des Col d’Illoire führt eine Etappe des Weitwanderweges GR 99 in die Höhe. Der schweißtreibende, gut zweieinhalbstündige Aufstieg über schroffes Kalkgelände auf den Grand Margès lohnt: Vom Gipfel eröffnet sich ein grandioser 360-Grad-Blick über den Grand Canyon Frankreichs mit seinem blauen Band, den knalltürkisen Lac de Sainte-Croix, die Berge des Haut-Var, das Plateau de Valensole (die Region des Lavendels) bis zu den Voralpen und bei klarem Wetter sogar bis zum Mittelmeer.
Ausflugstipp: Moustiers-Sainte-Marie
Der mittelalterliche Ort mit schmalen Gassen, pittoresken Steinhäusern, Olivenbäumen, Zypressen und einem rauschenden Gebirgsbach klebt wie ein Adlerhorst an einer gigantischen Felswand und zählt zu den schönsten Orten Frankreichs (und ist in der Hochsaison entsprechend überlaufen!). Ganz oben thront eine Wallfahrtskapelle.
Die „Fisch-Perspektive“ ist nicht minder beeindruckend. Im Dorf Montpezat bieten Outdoor-Anbieter ihre Dienste an. Per Kajak geht es in die (weitaus kleinere) Gorge de Beaudinard, einem ruhigen Abschnitt zwischen zwei Staustufen unterhalb des Lac de Sainte-Croix. Hier ragen die Felswände in markanten Farbschattierungen senkrecht in die Höhe (allerdings „nur“ zweihundert Meter), das Paddeln im gezähmten Fluss gegen die sanfte Strömung ist kinderleicht. Das kristallklare grüne Wasser lädt nur optisch zum Baden ein: Die Wassertemperatur steigt nie über zehn Grad, denn die Fluten verlassen den darüber liegenden Stausee in einer Wassertiefe von rund neunzig Meter.
Ausflugstipp: Bargème
Das Dörfchen auf 1.100 Metern ist das höchstgelegene im Département Var. Gerade noch 220 Menschen wohnen in den Steinhäuschen, die sich unter der Ruine des einst feudalen Schlosses und einer romanischen Kapelle ducken. Der Blick über das Plateau von Canjuers, das Mauren-Massiv und die Ausläufer der Alpen ist grandios.
Ein Hoch auf die Höhenangst
Winzig klein wie eine Ameise fühlen sich sportliche Alpinisten am Sentier Martel. Dieses Teilstück des Fernwanderweges GR 4 ist nach dem Höhlenforscher Édouard-Alfred Martel benannt, der 1903 eine schwierige Expedition in den Canyon wagte und diese als Erster durchwanderte. Der fordernde Steig auf seinen Spuren führt über schwindelerregende siebenhundert Höhenmeter in den Abgrund der großen Verdon-Schlucht. Unten folgt er zwischen steilen Felswänden stets dem gischtenden Fluss und führt durch zwei Tunnel. Achtung: Die teils extrem steile und ausgesetzte Tour ist vierzehn Kilometer lang (eine Richtung), ein Zwischenausstieg ist nicht möglich.
Gemütliche Reisende können die Gorges du Verdon auch vom Auto aus erleben – auf drei möglichen Routen: Die südseitige Corniche Sublime führt über die D71 von Comps-sur-Artuby zum Lac de Sainte-Croix. Nordseitig verbindet die D952 Castellane mit dem Stausee. Die Route des Crêtes („Grat-Route“) ist ein vierundzwanzig Kilometer langer Loop am nördlichen Rand des Canyons von La Palud sur Verdon entlang der D23 (wegen einiger Einbahn-Bereiche im Uhrzeigersinn befahren!). Zwischendurch laden Panorama- und Aussichtspunkte zu eindrucksvollen Tiefblicken ein. Definitiv nichts für Höhenängstliche, aber ein Hochgefühl für Adlernaturen. Von Claudia Jörg-Brosche
Infos und Tipps
Wohnen
– Domaine de l’Amarante: 3,6 Hektar mediterraner Garten mit Pool; im Naturpark Verdon im Haut Var bei Aups. Ferienhaus (8 P.) ab 1.550 € pro Woche, Apartment (2–4 P.) auf Anfrage
– B&B Hôtel des Colonnes, Riez: uraltes Haus mit drei geräumigen Gästezimmern; Charme und reichlich Patina, Innenhof, gutes Frühstück
Essen
– Le Saint Marc: in Aups, der Hauptstadt des Haut Var und der Trüffel; nettes Ambiente in einer einstigen Ölmühle
– La Treille Muscate: Provenzalisches Bistro mit zahlreichen Qualitäts-Labels, am Kirchplatz von Moustiers-Sainte-Marie
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