Ein Paar liegt im Bett und verzichtet auf Geschlechtsverkehr
Beziehung

Liebe ohne Lust auf Sex in der Beziehung: Ist das normal?

Sexlose Phasen oder fehlendes Verlangen gelten als gesellschaftliches Tabu: Die deutsche Sexualtherapeutin Julia Henchen über den Geschlechterunterschied und erlernbare Leidenschaft.

Partnerschaften mit getrennten Wohnsitzen, ohne Kinder oder ohne Trauschein – in westlichen Gesellschaften ist alles möglich, alles erlaubt. Nur eines scheint vorgegeben zu sein: Man soll regelmäßig, möglichst oft, leidenschaftlichen Sex haben. Dabei ist die häufigste sexuelle Störung unserer Gesellschaft die sogenannte Lustlosigkeit. So ergab eine Studie aus Großbritannien unter 1.900 verheirateten Erwachsenen, dass 40 Prozent der Befragten keinen Geschlechtsverkehr im vergangenen Jahr hatten.

Die deutsche Sexualtherapeutin Julia Henchen erklärt im KURIER-Interview, ob Frauen und Männer über sexlose Beziehungsphasen unterschiedlich denken und wie man wieder Lust bekommt.

 

KURIER: Warum kritisieren Sie die Kultserie "Sex and the City", die als sexpositiv gilt?

Julia Henchen: Ich kritisiere nicht "Sex and the City" per se, sondern allgemein die Darstellung von Sex und Lust in den Medien und vor allem immer aus heutiger Sicht – zur damaligen Zeit war die Serie eine Revolution für die weibliche Lust. Doch mit heutigem Blick gibt es viele kritische Ansichten, die zur Lust verbreitet werden, wie zum Beispiel dass es zu einer Beziehung dazugehört, Sex zu haben. Und wenn er nicht stattfindet, ist die Frau schuld daran oder sie wird betrogen.

Von einer Zahl, wie oft Paare Sex haben sollten, oder wie lange eine sexlose Beziehungsphase dauern darf, halten Sie nichts?

Das kommt stark auf den Kontext an, aber wenn Sie mich so fragen: Nein, ich halte nichts davon, anhand der Häufigkeit von Sex eine Beziehung in "gut" oder "schlecht" zu unterteilen oder eine sexlose Phase per se als "schlecht" zu kennzeichnen. Sexlose Phasen können wichtige Gründe haben, und es ist sinnvoll herauszufinden, warum sie da sind.

©Annika Fußwinkel / Julia Henchen

Sind Frauen von sexueller Unlust häufiger betroffen als Männer?

Schauen wir uns Statistiken an oder werfen wir einen Blick in meine Praxis, dann ja, und dies hängt vor allem mit unseren Vorstellungen von Sex und unserer Sozialisation zusammen. Doch auch viele Männer kennen sexuelle Unlust – hier ist das Thema allerdings deutlich tabuisierter. Hinzu kommt, dass sich Männer seltener Hilfe holen, wenn sie krank sind – vor allem mentale Unterstützung. So sind beispielsweise viele Männer mit Burn-out oder Depressionen von sexueller Lustlosigkeit betroffen. Es braucht also auch hier eine Enttabuisierung.

Denken und empfinden Frauen und Männer unterschiedlich über sexlose Beziehungsphasen?

Aus meiner Praxis kann ich sagen, dass die Unterschiede häufig nicht zu groß sind, Frauen aber häufig die Schuld auf sich nehmen und das Problem bei sich suchen. Frauen haben gelernt, dass sie für die Harmonie in Beziehungen zuständig sind, sich um alle kümmern sollen – so auch um ihre Partner – und ihre eigenen Bedürfnisse dabei meist nicht so wichtig sind. In der Therapie geht es dann vor allem auch darum, dass Frauen ihre Bedürfnisse erkennen und für diese einstehen.

Warum sagen Sie, dass sexuelle Lustlosigkeit ein gesellschaftliches und strukturelles Problem ist?

Sexuelle Lustlosigkeit ist auch ein Produkt von fehlender sexueller Aufklärung, Sozialisierung und Medienbeiträgen, die dazu führen, dass Frauen keinen Zugang zu ihrer Lust entwickeln können. Ihnen fehlen die Sprache und das Wissen über ihren Körper und ihre Lust. Und durch unsere Sozialisierung nehmen sie am Ende die Schuld auf sich, um sich dann auch noch allein darum zu kümmern. Viele Frauen in meiner Beratung fühlen sich alleine, und sie wissen überhaupt nicht, wo sie starten sollen, da dies nirgends besprochen wurde. Weder in der Schule noch zu Hause, und auch im Porno finden sich selten Antworten auf weibliche Lust. In Gesprächen wird dann auch schnell klar, dass die Anfänge ihrer Unlust bzw. der Umgang damit in der frühen Kindheit und ihren erlernten Glaubenssätzen liegen.

©mvg Verlag

Woran liegt es, dass bei manchen Paaren die Hürde, wieder sexuell aktiv zu werden, so groß ist?

Viele werden das Gefühl kennen: Man hatte schon länger keinen Sex mehr, und langsam kommt der Stress und damit auch der Druck, es endlich mal wieder zu tun. Doch wo anfangen? Wie auf den anderen zugehen? Der Druck wird größer und die Hürde auch. Es fühlt sich komisch an, so fremd und anders. Dieses Gefühl kann ganz automatisch entstehen, wenn man verunsichert ist und gleichzeitig den Druck hat, alles perfekt machen zu müssen. Die Hürde liegt also zum einen in einer Sorge und Angst und zum anderen in einer großen Verunsicherung. Eine Lösung wäre übrigens Kommunikation, was mich zu meiner Annahme führt, die in der Praxis häufig zutrifft: Das Paar hat kein Lustproblem, sondern ein Kommunikationsproblem.

Wann sollten Paare eine Paartherapie aufsuchen?

Aus meiner Sicht: gleich zu Beginn und immer dann, wenn es gerade wirklich toll läuft. Denn dann hat man die Kapazität dafür, etwas zu verändern: die Kommunikation zu verbessern oder zu schärfen und alte Verletzungen anzuschauen, um für die Zukunft gewappnet zu sein. In der Realität kommen Paare oder Einzelpersonen aber immer dann, wenn die Krise schon am Höhepunkt angekommen und der Leidensdruck kaum noch auszuhalten ist. Letztendlich ist es aus meiner Sicht wichtig, dass Paare den Schritt wagen und eine Paartherapie aufsuchen. Nach meiner Erfahrung lohnt sich dieser Weg immer.

Lust ist erlernbar?

Ja, Lust und auch ein Orgasmus sind erlernbar, denn niemand kommt auf die Welt und weiß, was Sex ist. Wir alle lernen – meist in unserer Jugend –, was Sex ist, wie sich Sex anfühlt und entwickeln so nach und nach unser persönliches sexuelles Skript. Ein sexuelles Skript ist ein persönliches Drehbuch, welches aufzeigt, welche erotische Kompetenzen eine Person hat, wie zum Beispiel welchen Zugang eine Person zum Körper hat, auf welche sexuellen Fantasien eine Person zugreifen kann, aber auch inwieweit eine Person die Fähigkeit besitzt, sich auf eine andere Person einzulassen, und Intimität aufbauen kann. Und das Großartige: Wir können unsere Kompetenzen immer erweitern, verändern und umlernen. So auch den Orgasmus.

Buch-Tipp: Julia Henchen: "Kopf aus – Lust an", mvg Verlag. 240 Seiten. 17,50 Euro

Anita Kattinger

Über Anita Kattinger

Leidenschaftliche Esserin. Mittelmäßige Köchin. Biertrinkerin und Flexitarierin. Braucht Schokolade, gute Bücher und die Stadt zum Überleben. Versucht die Welt zu verbessern, zuerst als Innenpolitik-Redakteurin, jetzt im Genuss-Ressort.

Kommentare