Seilers Gehen: Warum Wien eine Stadt der Kontraste ist
Ein Spaziergang durch eine Stadt im Lockdown ohne Touristen. Vom Stadtpark über den Kohlmarkt und zurück. 6.500 Schritte.
Es ist wieder Ruhe, aber auch Unruhe in der Stadt, ein Vibrieren, das ich nicht genau beschreiben kann. Den Stadtpark haben ein paar versprengte Impfgegner in einen Campingplatz verwandelt, jetzt kochen sie Tee und agitieren Spaziergänger an. Ich denke mir, sie sollten aufpassen, dass sie sich keine ansteckende Krankheit holen, sie sind schließlich nicht dagegen geimpft.
In der Bäckerstraße sprödes Durcheilen, wo sonst getrunken wird. Auf zwei-, dreihundert Metern finden sich hier ein paar bevorzugte Tränken der Innenstadt, vom Traditionscafé bis zur Cocktailbar. Sonst sehe ich auf der Straße ja immer die Asphaltcowboys, die beim Trinken auch rauchen müssen und deshalb mit ihren Getränken im Freien stehen. Jetzt sind es nur ein paar wenige, die das Bier von zu Hause mitgebracht haben, aber nicht darauf verzichten wollen, es in Gesellschaft zu genießen und ein bisschen dabei zu frieren.
Anker-Uhr am Hohen Markt
Auf dem Hohen Markt spazieren die Figuren der Anker-Uhr quer über ihren öffentlichen Pfad, ohne dass sie von massenweise Touristen dabei beobachtet werden. Ich fand es ja erstaunlich, wie viele Auswärtige schon wieder in Wien unterwegs waren, die Stadt hatte ihr babylonisches Sprachengewirr zurück, minus asiatisch und amerikanisch.
Jetzt wird geschwiegen oder auf Wienerisch geflucht. Ich gehe dort vorbei, wo sonst die langen Schlangen stehen: Vor dem Louis-Vuitton-Haus im Goldenen Quartier (der Grund dafür ist mir unbekannt). Vor dem Demel (wofür ich einen Hauch von Verständnis hätte, wüsste ich, dass sie sich dort die besten Punschkrapfen weltweit besorgen). Vor dem Café Central (auf welchem Reiseportal steht eigentlich, dass der Besuch hier ein Must ist?). Vor dem Bitzinger-Würstelstand bei der Albertina (wofür ich normalerweise erst ab 23 Uhr ein gewisses Verständnis aufbringe).
Ich denke auf meinem Spaziergang darüber nach, in welche Richtung Wien sich gerade entwickelt, zwischen vorweihnachtlicher Aufregung und dem schon wieder verordneten Distanzgefühl. An vielen Stellen erkenne ich das Wien, wie es immer mehr wird: elegant, fast schon mondän, glänzend in seiner Selbstinszenierung, prächtige Schaufenster, teure Verlockungen, edles Entertainment. Dazwischen gibt es aber immer noch die kleinen Irritationen, die gar nicht mehr so recht ins Ensemble passen wollen, aber ganz wichtig dafür sind, dass Wien nicht irgendeine Stadt wird, sondern seine Erdung bewahrt.
Nostalgie in Wien
Oft betrachte ich diese Orte nur mit diskretem Wohlwollen. Heute suche ich sie auf. Schaue durch die Fenster ins Gasthaus Reinthaler in der Gluckgasse, einem Beisl wie aus dem Bilderbuch der siebziger Jahre. Betrachte die Auslage vom EMI-Plattengeschäft in der Kärntner Straße, das mit Jahresende für immer schließt, schnüff. Suche mir einen Zinnsoldaten bei Zinnfiguren Böhm in der Schulerstraße aus. Reserviere mir einen Satz Batterien im pittoreskesten Elektrowarengeschäft der Stadt, bei Accu Lux in der Schultergasse. Wien ist eine Stadt der Kontraste. Es lohnt sich, diese Kontraste auszukosten. Sie machen unsere Stadt aus.
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