Granfluencer: Wie Oma-Rezepte Millionen Klicks auf Insta holen
Omas Küche als nostalgischer Anker in Krisenzeiten: Man schließt die Augen und erinnert sich - an Trost und Zauber.
Gebackener Karpfen mit Erdäpfelsalat, Gansl oder schlichte Suppe, danach ein Teller Kekse: An Festtagen haben traditionelle Gerichte Hochsaison, die Rezepte dazu werden oft wie ein Familiengeheimnis gehütet und weitergereicht.
"Alte-Oma-Rezepte", "Omas Küchenschätze", "Heimwehküche": Bücher oder Lokale, die die Kulinarik von einst zelebrieren, boomen. Wie etwa die "Enoteca Maria" auf Staten Island, New York, wo ältere Frauen ihre Küchengeheimnisse auf die Teller zaubern. Wie gut das Prinzip funktioniert, beweist in Wien das Konzept "Vollpension". Nach der Gründung zweier Generationencafés sowie einer eigenen Backakademie wurde nun eine weitere Dependance in Wien-Favoriten eröffnet. Dort backen Omas und Opas Buchteln und Kekse am laufenden Band.
Omas kapern Insta und TikTok
Kochende "Alte" erobern aber auch das Netz. Als Star der kulinarischen "Granfluencer"-Szene gilt die 83-jährige Italienerin Silvana Bini. Allein auf Instagram gibt sie als "Nonna Silvi" knapp vier Millionen Followern traditionelle Kochtipps für Pasta, Pesto, Pizza. In Österreich – und mittlerweile auch Deutschland - begeistert die 69-jährige Wienerin Renate Kaufmann mit ihrem Blog "fragdieoma" ihre - aktuell - 181.000 Insta-Follower und fast ebenso viele auf TikTok.
"Angefangen hat alles mit einem Blog und Rezepten, die ich mein Leben lang gesammelt habe. Meine Enkel meinten dann, ich bräuchte unbedingt Videos. Im Campingurlaub filmten sie mit, wie ich eine einfache Knoblauchbutter zusammengerührt habe und richteten einen Account ein. Dazu gab es eine Führung durch den Wohnwagen. Ich habe daran gezweifelt, ob das jemanden interessiert, wenige Tage haben schon ein paar Tausend Menschen reingeschaut."
Ihr Fundus an gut erprobten Rezepten ist groß: "Ich hatte das große Glück, eine Großmutter, Mutter und Schwiegermutter zu haben, allesamt großartige Köchinnen, die ihre Rezepte niederschrieben." In ihren Videos hält sich die pensionierte Lehrerin akribisch an genaue Gewichtsangaben und Anleitungen.
Powidl und Mayonnaise als Klick-Hits
Einfachheit punktet: "Das größte Interesse löste meine selbst gemachte Ein-Minuten-Mayonnaise aus. Das Rezept habe ich jetzt schon mehrmals gebracht, es hatte jedes Mal über eine Million Zugriffe und fasziniert Menschen offenbar." Ebenso wie die Anleitung für ihren selbst gemachten Powidl.
Kaufmann merkt an den Zuschriften, dass die Sehnsucht nach alten und traditionellen Gerichten wächst: "Speziell rund um Weihnachten schreiben mir sehr viele Frauen, dass sie sich durch mich an ihre Kindheit mit der Großmutter erinnern. Die Geschichten dazu sind oft sehr bewegend." Dabei ginge es oft um die Sehnsucht nach Sicherheit und Geborgenheit, die Menschen als Kinder erlebten – und einer Idee von heiler Familie.
Dass Essen und Aromen Erinnerungen und Emotionen hervorrufen können, ist evident. Geruchswahrnehmung und Bereiche, die für Emotionen zuständig sind, liegen im Gehirn nahe beieinander. "Frühe Esserfahrungen prägen den individuellen Geschmack; Geschmackserlebnisse aus der Kindheit sind wiederum mit Erinnerungen und Emotionen verbunden, die durch den Genuss der Kindheitsspeise reaktiviert werden", so die Literaturwissenschafterin Christine Ott in ihrem Buch "Identität geht durch den Magen".
In der Psychologie existiert dafür der Begriff "Proust-Effekt", auch "Madeleine-Effekt". Er geht zurück auf den Roman "Auf der Suche nach der verlorenen Zeit", in dem der französische Schriftsteller Marcel Proust folgende Episode beschrieb: "In der Sekunde, in der Swann den Geruch von frisch gebackenen Madeleines und Lindenblütentee aufsog, zuckte er zusammen und war wie gebannt durch etwas Ungewöhnliches, das sich in ihm vollzog. Ein unerhörtes Glücksgefühl, das ganz für sich allein bestand, hatte ihn durchströmt. (…) Und dann mit einem Male war die Erinnerung da. Der Geschmack war der jener Madeleine, die ihm am Sonntagmorgen seine Tante Léonie anbot, nachdem sie sie in ihren Tee getaucht hatte."
Ein Phänomen, dessen sich auch der bekannte Animationsfilm "Ratatouille" (2007) bediente. Darin wird der gefürchtete Gastrokritiker Anton Ego durch den Genuss einer Ratatouille auf magische Weise an das Essen seiner Mama erinnert – und ist von diesem Moment an vom kulinarischen Talent des unbekannten Kochs überzeugt.
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