Wien 1900: Schmelztiegel der Genies

Ein Buch porträtiert, warum das Wien um 1900 ein Magnet der Moderne war. Von Klimt bis Kokoschka war die Stadt ein kühnes Versprechen.

"Ihr müsst große Zauberer sein.“ Es ist kein frommer Wunsch, der hier vorgetragen wird, sondern eine hoffnungsvolle Forderung und viel mehr noch: ein unablässiges, leidenschaftliches Begehr. Formuliert wurde es vom Dichter Hermann Bahr. Gemeint hat er damit einst die Initiatoren der 1897 gegründeten Wiener Secession. Abgespalten hatte die Künstler-Gruppierung sich, losgesagt vom Bewahren der Tradition: Kühn sollte ihr Schaffen werden, einzigartig und leidenschaftlich. So wie Gustav Klimt als Gründungspräsident und seine modernisierenden Mitstreiter eben auch. Und wie es in Wien um die Jahrhundertwende generell zuging. „Was halt Wien ist, müßt ihr malen“, so Bahr – „subtile Freuden, innige und delicate Wünsche, unruhige Hoffnungen in unseren Seelen.“

Das Buch „Wien 1900“ widmet sich der einzigartigen Mentalität dieses Milieus anlässlich des vierzigjährigen Jubiläums des Brandstätter Verlags in Form einer limitierten Sonderausgabe von 500 Stück. Und dokumentiert in opulenter Form, wie sich zwischen 1897 und 1918 in Wien die Moderne bündelte und ihr künstlerische Höchstleistungen abrang: als Schmelztiegel gegensätzlicher Stile, und von Kunst und Design bis Architektur und Mode.

Oskar Kokoschka: „Amokläufer“, 1908/09 – Fackel und Dolch in Händen

©IMAGNO/Austrian Archives/Oskar Kokoschka/Bildrecht GmbH, Wien/Brandstätter Verlag

Der Trieb als Antrieb

Die Drastik kam dabei nie zu kurz. Nicht ohne Grund wurde Oskar Kokoschka der Beiname „Oberwildling“ gegeben. Die Zurückweisung einer Frau, in diesem Falle von Lilith Lang, die ihm Modell gesessen hatte und der er erfolglos einen Heiratsantrag machte, konnte so einer naturgemäß nicht verwinden. Die Enttäuschung über die Abfuhr entlud sich in radikalem Expressionismus: In der Tempera- und Tuschzeichnung „Amokläufer“ stürmt er – die jeweiligen Initialen weisen auf ihn und die Geliebte hin – wutentbrannt durch ein Spalier von Frauen, in der einen Hand eine Fackel, in der anderen der Dolch.

Ein Bild voller Bedrohlichkeit, Angst und Aggression, zum Glück nur als Kunst. Die Obsession mit einer Frau wurde ihm auch später Werk: Die Amour Fou mit der Künstlermuse Alma Mahler führte zu Doppelbildnissen, bekleidet wie nackt, mit „Die Windsbraut“ als Höhepunkt, ineinander verwunden, „am Rand in einem Halbkreis bengalisch beleuchtetes Meer“.

Der Eros als Antrieb ist in diesem Künstlerkreis allgegenwärtig: 1905 erschien Sigmund Freuds „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, ein Jahr später die erotischen Ergüsse der Josefine Mutzenbacher, von Felix Salten, der auch „Bambi“ verfasste. Egon Schiele vereint Sexualität und Tragik. Adolf Loos wurde für die „Verführung zur Unzucht“ aufgrund Modellstehens kleiner Mädchen verurteilt. Der Dichter Peter Altenberg sammelte mit exzessivem Eifer einschlägige Fotografien junger Frauen.

Viele Fäden waren miteinander verworren. So ging Liliths Bruder Heinz, ein 18-jähriger Gymnasiast, eine Liaison mit Adolf Loos’ Frau Lina ein. Die Sache flog auf, als der Architekt diverse Liebesbriefe entdeckte; Heinz, todunglücklich, bat Altenberg um Hilfe, der ihm zum Selbstmord riet – den dieser 1904 tatsächlich umsetzte. Arthur Schnitzler verarbeitete den Skandal in seinem Stück „Das Wort“.

Neid, Intrige, Leidenschaft, Exzess, all das ist in Wien um 1900 verteilt auf eine Ansammlung von Genies, deren Wege sich unablässig kreuzen: Otto Wagner, der visionäre Architekt, der Kunsthandwerker und Grafiker Koloman Moser, der Maler Richard Gerstl, Egon Schiele, Klimt und so viele mehr ... Wien fungierte als multinationaler Genie-Magnet und multikulturelle Melange des Alten Europas: Freud kam etwa erst im Alter von drei Jahren aus Mähren nach Österreich, Klimts väterliche Vorfahren stammen aus Nordböhmen, Mahler, Kraus und Schönberg aus Tschechien und Schnitzler aus Ungarn.

„In dieser vielsprachigen, an Charakter und Eigenarten bunten Stadt leben die Künstler des Landes und saugen das Bild ihrer Vielfältigkeit ein“, schrieb der Maler Anton Faistauer. Ihre Ideen wirken bis heute – und stehen stellvertretend und unverwechselbar für Wien in der ganzen Welt.

Alexander Kern

Über Alexander Kern

Redakteur KURIER Freizeit. Geboren in Wien, war Chefredakteur verschiedener Magazine, Gründer einer PR- und Medienagentur und stand im Gründungsteam des Seitenblicke Magazins des Red Bull Media House. 12 Jahre Chefreporter bzw. Ressortleiter Entertainment. Schreibt über Kultur, Gesellschaft, Stil und mehr. Interviews vom Oscar-Preisträger bis zum Supermodel, von Quentin Tarantino über Woody Allen bis Jennifer Lopez und Leonardo DiCaprio. Reportagen vom Filmfestival Cannes bis zur Fashionweek Berlin. Mag Nouvelle Vague-Filme und Haselnusseis.

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