Stephansdom Wien Nordturm

Darum ist der Wiener Stephansdom ohne Nordturm schöner

Ein Ende des Baus der Sagrada Família scheint in Barcelona in Sicht. Warum es wie beim Stephansdom gut sein kann, wenn Sakralbauten nicht so aussehen wie geplant.

Der Bau scheint den verrücktesten Träumen seines Architekten entsprungen zu sein. Die Türme durchbrechen den Himmel wie die Spitzen verzauberter Märchenschlösser. Die Struktur wirkt, als sei sie in einem Geburtsakt aus der Erde emporgewachsen. Säulen und Bögen im Inneren erinnern an einen Palmenhain. 

Und wie in der Natur schien die Entwicklung der Sagrada Família nie abgeschlossen zu sein. Nicht umsonst gilt das Wahrzeichen Barcelonas als die „Unvollendete“. „Mein Kunde hat keine Eile“, sagte der Architekt Antoni Gaudí. Mit Kunde meinte der strenggläubige Katholik Gott.

Und doch ist ein Ende in Sicht. Womöglich. Im vergangenen Jahr wurden die vier 135 Meter hohen Türme fertiggestellt, die für die Evangelisten stehen. Ein Meilenstein. Anders als gewünscht, wird die Fertigstellung der gesamten Kirche zum 100. Todestag Gaudís im Jahr 2026 nicht gelingen. Zehn Jahre wird es wohl noch dauern. Wenn sie denn fertig ist, wird die Sagrada Família mit ihren 172,50 Metern nicht nur das höchste Bauwerk der Stadt, sondern die höchste Kirche der Welt sein.

Dass die Sagrada Família  rechtzeitig zum 100. Todestag ihres Architekten Antoni Gaudí 2026 fertig wird, daran glaubt heute niemand mehr

©Getty Images/iStockphoto/matthewleesdixon/iStockphoto

Gaudí starb 1926 bei einem Straßenbahnunfall. Da hatte er den Park Güell und die Casa Milà hinterlassen. Und Anstrengungen fürs Gehirnschmalz der nachkommenden Generationen. Von 18 Türmen stand damals nur einer. Die Basilika war zu 15 Prozent fertiggestellt. Aber es musste weitergehen. Die hinterlassenen Pläne reichten aus, waren sich Politiker und Architekten einig.

Fassade zerstört

Dann kam der Spanische Bürgerkrieg: Antiklerikale Truppen brannten die Fassade nieder und zerstörten Teile der Krypta. Die Angreifer ruinierten Gipsmodelle, Pläne verschwanden. Kurzum: Man wusste nicht recht, wie die Basilika eigentlich aussehen sollte. Doch die Menschen, die daran arbeiten, sind sich sicher, dass sie es im Sinne Gaudís tun.

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Und da braucht es Leute wie Jordi Faulí, der sich mit Gaudís Werk beschäftigt hat und zu wissen glaubt, wie es weitergegangen wäre. Computermodelle helfen dabei. „Alles hier ist Mathematik“, sagte Faulí einmal der Süddeutschen Zeitung.

Er war 31, als er 1990 zum Architekten-Team stieß. Er wollte in Gaudís Gedankenwelt eintauchen und studierte Schriften, die auch schon Gaudí gelesen hatte. Ein Vorgänger hatte eine geometrische Formel hinter den Proportionen der Kirche entdeckt. Mit den Segnungen der modernen Technik erstellten Faulí und sein Team ein 3-D-Modell der Basilika. So oder so ähnlich muss sich Gaudí die fertige Kirche vorgestellt haben. 

Immer wieder sahen Kritiker Gaudís ursprüngliche Vision und Pläne für die Kirche in Gefahr. Sie forderten einen Baustopp, weil architektonische Scharlatane das Erbe des großen Meisters beschädigen würden. So auch 1964 der Stadtplaner und spätere Baustadtrat Oriol Bohigas. Er startete eine Unterschriftenaktion, bei der auch Heroen der Moderne wie Le Corbusier oder Walter Gropius unterschrieben.

Der berühmte Maler Salvador Dalí soll gesagt haben: „Es wäre ein Verrat, auch nur daran zu denken, die Sagrada Familia fertigzustellen ... ohne Genie. Sie soll stehen bleiben, wie ein riesiger verfaulender Zahn.“ Baumeister Faulí sagte einmal, dass so ein kolossales Bauwerk sowieso nie fertig wird. Es gibt immer etwas zu tun. 

Nordturm-Bau 1511 eingestellt

Da ist die Sagrada Familia nicht allein. Bedeutende Kirchen entwickeln sich immer weiter. Vor allem, wenn sie alt sind wie der Wiener Stephansdom: „Das Bauwerk wurde fast in jedem Jahrhundert umgeplant“, sagt Wolfgang Zehetner, seit 1993 Dombaumeister. Eine Veränderung hatte große Auswirkungen: „Es fällt sofort auf, dass der zweite Turm nicht fertig ist.“

Zwei hohe Türme würden das Bauwerk marginalisieren. So wie der Dom jetzt da steht, ergibt sich eine spezielle Dynamik zum Turm hin, eine Spirale nach oben

Wolfgang Zehetner Dombaumeister Stephansdom

Der Bau wurde 1511 eingestellt. „Mit 1500 war das Mittelalter zu Ende. Da hielt man es nicht mehr für nötig, Zeit und Geld in den gotischen Nordturm zu stecken.“ Die Steinmetze sollten dann die Stadtmauern zur Abwehr der herannahenden Osmanen verstärken.

Der Nordturm blieb unvollendet. 

©Stadt Wien/Christian Fürthner | Stand: 2019

Mit der Wiederentdeckung der Gotik tauchten auch wieder Pläne auf, die einen zweiten, den ersten überragenden Turm zeigten. Ob das wirklich so stimmt, sei dahingestellt. Es könnte sich auch jemand verrechnet haben. Jedenfalls: „Die zwei Türme waren im Vorhinein zeitlich versetzt geplant. Der erste wurde schnell hochgezogen, der zweite sollte später folgen.“

Dass es nicht so gekommen ist, ist eine glückliche Fügung, wie Zehetner findet: „Es ist nicht nur meine Meinung, dass der Stephansdom gerade durch diese Asymmetrie eine Unverwechselbarkeit hat.“ Schließlich sei der Stephansdom die einzige große Kathedrale, deren Turm höher als das Schiff lang ist. „Zwei hohe Türme würden das Bauwerk marginalisieren. So wie der Dom jetzt da steht, ergibt sich eine spezielle Dynamik zum Turm hin, eine Spirale nach oben.“

Wiener Melange

Auch wenn der zweite Turm ausblieb, hat sich das Bauwerk im Laufe seines Bestehens immer wieder verändert. Das macht ihn unverwechselbar: „Vor 60 Jahren beurteilten Kunsthistoriker unseren Dom abschätzig. Wiener Melange, sagten sie verächtlich.“ Hochwertige Bauten waren stilrein. „Heute ist unser Dom einzigartig. Es gibt hier Romanik, Frühgotik, Hochgotik, Barock. Von der Notre Dame gibt es 20 kleinere Kopien in Frankreich.“ Vom Stephansdom gibt es nur den Stephansdom.

Dombaumeister Wolfgang Zehetner im Wiener Stephansdom.

©Kurier/Jeff Mangione

„Und der spätgotische Turm war immerhin 70 Jahre der höchste der Welt.“ Dass der – eher ungewöhnlich – an der Seite steht, hat auch wiederum etwas mit Veränderung zu tun. „Rudolf IV. wollte Wien zur Hauptstadt des Heiligen Römischen Reiches machen. Und dazu brauchte es einen Kaiserdom.“ Eine klassische Kathedrale im Mittelalter hatte einen kreuzförmigen Grundriss, ein hohes Mittelschiff, niedrigere Seitenschiffe.

 „Die Wiener Kirche war ursprünglich keine Bischofskirche, sondern wurde von den reichen Wiener Bürgern finanziert. Es gab eine dreischiffige hohe Halle. Rudolf wollte an den Seiten zwei Türme anbauen. Damit bekam die dreischiffige Halle nachträglich einen kreuzförmigen Grundriss.“ So einfach geht das.

Der perfekte gotische Dom ist er damit nicht. Aber der steht ohnehin in Köln. Das sagte der alte dortige Dombaumeister zum befreundeten Wiener Kollegen Zehetner. Kein Wunder: Immerhin dauerte es mehr als 600 Jahre, bis der kolossale Bau 1880 vollendet wurde. „Im 19. Jahrhundert analysierte man die Kathedralen in Paris, Reims, Chartres. Daraus destillierte man die wahre Gotik.“ Goethe löste mit der Schrift „Von Deutscher Baukunst“ die Neuentdeckung des gotischen Stils aus. 

Es folgte eine Verklärung, der nie fertiggestellte Kölner Dom galt als deutsches Nationaldenkmal, das vollendet werden müsse. Der preußische – und protestantische – Kaiser Friedrich Wilhelm IV. finanzierte den katholischen Sakralbau maßgeblich mit.

Andere – wie die Kathedrale Saint-Pierre in Beauvais mit dem höchsten Kirchengewölbe der Welt – blieben unvollendet. Und sie sind gerade deshalb einzigartig.

Daniel Voglhuber

Über Daniel Voglhuber

Redakteur bei der KURIER Freizeit. Er schreibt dort seit Dezember über Reise, Kultur, Kulinarik und Lifestyle. Also über alles, was schön ist und Spaß macht. Er begann 2011 als Oberösterreich-Mitarbeiter in der KURIER-Chronik, später produzierte er lange unterschiedliche Regionalausgaben. Zuletzt war er stellvertretender Chronik-Ressortleiter.

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