Comeback der 90er: Einmal geht’s noch
Ob in Pop, Kino oder Mode: Die Neunzigerjahre sind zurück, die Generation Z geht auf Zeitreise. Bereit für eine geballte Ladung Retro-Feeling?
Die Neunzigerjahre, waren die nicht gerade noch? Durchlebten wir nicht ihre großen und kleinen und blauen Wunder im kunterbunten Zirkuszelt der Popkultur-Phänomene. Und jetzt feiern sie … ein Comeback? Es fällt einem schwer zu glauben, dass dieses Jahrzehnt, das gefühlt erst einen Wimpernschlag kurz zurückliegt, jetzt plötzlich „wieder da“ sein soll. Doch ein Rundumblick auf Pop, Kino, Mode beweist es: Die Generation X feiert eine triumphale Rückkehr ins Scheinwerferlicht. Und die Jungen stehen drauf.
Netflix, für gewöhnlich ein valider Seismograph für Trends, ist da naturgemäß mit von der Partie. Mit „Die wilden Neunziger!“ lässt der Streamingriese gerade eine Serie neu aufleben, die einst in den Neunzigern lief und „Die wilden Siebziger!“ hieß. Ashton Kutcher, Mila Kunis & Co lungerten damals innert einer Gruppe von Kids ziemlich gelangweilt im Keller rum, kifften, schmusten und badeten allerlei Probleme mit der Erwachsenenwelt aus. Eine erzählerische Grundkonstellation, an der auch die Neuauflage nichts ändert. Das zieht immer noch: Staffel zwei ist bereits bestätigt.
Auch im öffentlich-rechtlichen Fernsehen setzt man auf Nostalgie. „Wetten, dass ..?“ bekommt einmal im Jahr ein Revival. Selbstverständlich mit Thomas Gottschalk als Zeremonienmeister.
Hollywood macht mit
Hollywood, immer interessiert an der Prolongation lukrativer Projekte, zieht da sowieso gerne mit: Channing Tatum („Magic Mike“) erzählte jüngst der Glamour-Bibel Vanity Fair, er hätte sich mit seiner Produktionsfirma die Rechte an „Ghost“ gesichert, er werke an einer Neuverfilmung. Die Mystery-Romanze handelte 1990 von einem ermordeten Mann, der als Geist zurückkehrt, um seine Frau vor dem Killer zu warnen. Ein Riesenerfolg. Der Patrick Swayze endgültig in die Riege der Superstars beförderte.
Auch „Scream“ (1996) definierte die Dekade. Laut SZ ist der Horrorstreifen „einer der besten Filme der Neunzigerjahre“. Er zerlegte das Genre nicht nur in seine Einzelteile. Kein Halloween konnte mehr stattfinden, ohne dass sich jemand Munch-Maske und Kapuze überzog. Nach dem Neustart der Filmreihe 2022 läuft diesen März bereits Teil sechs an. „Wednesday“-Star Jenna Ortega darf sich dieses Mal fürchten. Ghostface für die GenZ.
Ebenfalls im März geht die Serie „True Lies“ auf Sendung – eine Adaption des witzigen Actionspektakels selben Namens mit Arnold Schwarzenegger. Macher war damals James Cameron. Der Regisseur räumte in den Neunzigern ordentlich ab. Vor allem mit „Titanic“, der Kassenschlager setzte 1997 neue Maßstäbe. Noch heute kann das Publikum nicht genug vom Mega-Melodram bekommen – weshalb es jetzt erneut im Kino zu sehen ist (siehe Interview, S. 39).
Bauchfrei und klapperdürr
Wer jedoch annimmt, das Neunziger-Revival fände nur auf Bildschirm und Kino-Leinwand statt, irrt. Ein Blick auf die Straße und in die Clubs beweist: Nie zuvor herrschte so viel Nineties-Feeling wie jetzt.
Da wären etwa die klobigen, bunten Lauf- und Freizeitsportschuhe, die mittelalte Papas einst gern in der Freizeit über die Füße streiften. Neu interpretiert (von Balenciaga bis Adidas) gelten sie als cool – und werden ihrer ausgesuchten Hässlichkeit wegen gern als Ugly Sneakers bezeichnet.
Crop-Tops liegen ebenfalls wieder im Trend. Britney Spears, die Spice Girls oder Jennifer Aniston trugen die bauchfreien Tops sowohl auf der Bühne wie im Alltag. Wenn sie dabei ein Bauchnabelpiercing offenbarten – umso besser.
Bandanas – erneut in Mode. Choker, also eng um den Hals liegende Bänder aus Samt oder Leder – ebenfalls. Selbst die Low-Rise-Jeans feiern dank Trendsettern wie Bella Hadid ein Comeback. Die im Bund extrem tief sitzenden Hüfthosen, wie sie Shakira trug, sorgen für kühle Nieren und sexy Vibes. Für Jubel sorgt das keineswegs überall. „Horror“, kommentierte die FAZ die Rückkehr. Denn die Jeans würden bei Mädchen Selbstzweifel auslösen, nicht dünn genug zu sein. Solcherart ein gesundes Körperbewusstsein entwickeln? Äußerst schwierig.
Mit der die vergangenen Jahre viel beschworenen Body Positivity – also gegen unrealistische Schönheitsideale und für ein positives Körpergefühl – haben solche Mode-Erscheinungen kaum zu tun. Zeichnet sich da gerade eine Gegenbewegung ab? Kim Kardashian etwa, berühmt für ihr ausladendes Hinterteil und damit lange Zeit viel fotografiertes Schönheitsideal, hat mittlerweile deutlich abgenommen.
Als die boulevardeske New York Post Ende vergangenen Jahres „Bye-bye booty: Heroin chic is back“ titelte, sorgte das für einen Aufschrei. Androgyn, blass und extrem dünn solle wieder en vogue sein, hervortretende Schlüsselbeine und Hüftknochen inklusive. Nicht von ungefähr heißt es „Heroin Chic“ – weil das Körperideal, das einst von Kate Moss am besten dargestellt wurde, und sich als Gegenreaktion auf das sportlich-fitte Selbstbewusstsein der Achtzigerjahre etablierte, an das Aussehen von Drogenabhängigen erinnert. Die Rückkehr anderer zeittypischer Trends scheint da weniger bedenklich. Slip Dresses etwa, was die Garderobe angeht, Micro Bangs für die Haare, oder dunkel umrahmte Lippen, wie sie jüngst Victoria Beckham aufleben ließ.
Die Herren der Schöpfung haben es da einfacher. Kurt Cobain, Sänger von Nirvana, war der Säulenheilige der Nineties. Bekanntlich machte er die alte, zerfusselte Wollweste der Mitzi-Oma zum Must-have für rebellierende Teenager. Oversized, Cargo-Hosen, Holzfällerhemd, das geht auch heute wieder. Im Moment ist ohnehin alles erlaubt: sogar die überweiten Baggy Pants, die früher tief unter der Hüfte saßen, und oft freie Sicht auf die Untergattinger des Trägers gestatteten.
Zeit vor dem Internet
Viele Stile in Koexistenz, von Britney bis Nirvana, das zeichnete die facettenreichen Neunziger aus. Dass sie irgendwann wieder kommen, war klar. Kultur und Mode finden in Schleifen statt. Jeder Trend kommt früher oder später zurück, wie ein Bumerang. In Zuge dessen wird Erinnerung verklärt, adaptiert und weiterentwickelt. Als „unschuldig“ eingestuft werden die Neunziger vor allem aufgrund eines Technikstands, den wir heute belächeln: Festnetztelefon, CDs, VHS-Kassetten, vielleicht noch die Angst vor dem Millennium Bug – irgendwie süß, oder?
Das letzte Jahrzehnt vor dem Beginn der großen digitalen Revolution, dem Internet-Zeitalter. Beseelt von der Aufbruchstimmung nach dem Fall der Berliner Mauer. Die Welt, sie schien überschaubar. Franste zugleich in alle Richtungen aus – und das machte verdammt viel Spaß. Erinnerungen wurden noch nicht permanent am Handy und auf Social Media festgehalten. Für viele erscheint das geradezu unvorstellbar wie paradiesisch reizvoll, kein Wunder. Also wird „Friends“ geglotzt und „Sex And The City“. Für die passenden Beats der Zeitreise der GenZ sorgen Drake oder Beyoncé. Beide unterfütterten ihre aktuellen Alben mit sattem Neunzigerjahre-Feeling. Denn so verschwinden alle Sorgen immer noch am besten: rauf auf den Dancefloor – und tanzen!
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