Schön brav normschön: Ist der TikTok-Trend Vanilla Girl ein Problem?

Chai Latte, Seidenbettwäsche und Perfektionismus, ganz in Weiß: Warum der Trend für so viele Mädchen erstrebenswert ist - und für Kontroversen sorgt.

Kein TikTok ohne (neuen) Trend. Das Wesen des Sozialen Mediums an sich erfordert es ja per se, permanent neue Entwicklungstendenzen anzustoßen, Wellen zu machen, für Unruhe zu sorgen. Das Videoportal mit seinen Kurzclips treibt das zur Perfektion. Es bündelt aktuelle Themen, treibt Moden auf die Spitze, macht Nischen mainstreamig, regt Comebacks an. Stichwörter: Low-Rise-Jeans, Nepo Babies, Cluttercore.

Jetzt macht auf TikTok ein neuer Ästhetik-Trend die Runde. Die Generation Hashtag, die allem sofort ein Label aufstempeln muss, hat dafür selbstverständlich schnell einen einordnenden Begriff erfunden: Vanilla Girl.

Seidenweich und weiß

Was das ist? Ein Leben, das in den Farbpalette beige, weiß und creme gehalten ist. Und zwar in all seinen Ausformungen. Bei der Kleidung werden weite, fallende Stoffe in hellen, zarten Tönen bevorzugt. Oversized-Pullover, Uggs und Perlenketten gelten als Must-haves. Das Haar fällt seidenweich auf weiße Tops und Westen.

Das Make-up wird zurückhaltend angelegt, der Look soll hochgradig natürlich aussehen. Roter Lippenstift hat hier nichts verloren, der Lipgloss ist hautfarben. Kein Farbtupfer darf diese ätherische Idylle stören. Sprich: Am besten schwebt man als Engel durchs Leben.

Hauptsache puristisch

Ein minimalistischer Lifestyle ist das Maß aller Dinge. Dazu gehört, dass man förmlich nach Vanille riecht, also stets auf einer pastellfarbenen Duftwolke über die Welt wandelt. Auf edel-beigen, skandinavisch designten Tischsets stehen Duftkerzen und ein wärmendes Gläschen Chai Latte. Für den ultimativen Wohlfühlfaktor dieses noblen Lebensgestus sorgen Seidenbettwäsche und gestrickte Decken Farbmarke Elfenbein. Was ihn begünstigt: Im Idealfall ist man schlank und blond.

492,5 Millionen Aufrufe verzeichnet der Begriff „Vanilla Girl“ aktuell bereits auf TikTok. Clips wie „How To Be A Vanilla Girl“ oder „Essentials for Vanilla Girls“ geben Anleitungen, wie man sich perfekt als solches und anhand welcher Accessoires inszeniert. Der erste Ästhetik-Trend der Plattform ist das nicht: Vor Vanilla Girl gab es mit „Clean Girl“ und „That Girl“, die eine ähnliche Lebenswirklichkeit propagierten.

Kritik am Perfektionismus

So weit, so harmlos? Nicht so schnell. Denn der Trend ruft auch Kritik hervor. Kein Wunder. Denn wer soll denn diesem zu Tode perfektionierten Lebensentwurf bitte gerecht werden können? Während die einen dem Beauty-Ideal nacheifern, schütteln andere darüber den Kopf, was Frauen anderen Frauen oft imstande sind anzutun.

Für jene unter ihnen, die beruflich mit einem hohen Stresslevel zu kämpfen haben (der liegt bei Frauen lt. Forsa-Online-Umfrage mit 42 Prozent um neun Prozent höher als bei Männern) und häufiger einer Mehrbelastung aus Arbeit, Kind, Familie, Partnerschaft ausgesetzt sind, ist die Lebenswelt eines Vanilla Girls äußerst unrealistisch.

Zwischen Kinder in die Schule bringen, Date Night und Deadline noch mit Spange im Haar und im sexy Pyjama Tee schlürfend in Seidenbettwäsche rumkuscheln? Das wirkt verhöhnend.

Das konfektionierte Traumbild einer selbstoptimierten, perfektionierten Welt ganz in Weiß vermittelt jungen Frauen wahrscheinlich ein problematisches Selbstbild. Eines, das sie kaum zu erreichen imstande sind. Und in der ein gezopfter Ralph-Lauren-Pulli das Maximum gefühlten Glücks manifestiert. Eine eierschalfarbene, heile Welt, die mit der Wirklichkeit nichts zu tun hat. Sie gezielt ausschließt. Und trotzdem Druck auf sie ausübt.

Internet-Traumwelt

Wobei, darum ging es ja vielleicht nie. Kompatibilität ist bei viralen Trends nicht zwingend eine erforderliche Kategorie. Als Internet-Faszinosum ist das Vanilla Girl durchaus erklärbar. Als aussichtsloses Ideal und dem Bedürfnis, in einer Welt zu leben, die kein Wässerchen trüben kann.

Und weil soziale Medien nun mal eben von extremen Trends leben. Einerseits, damit sie auch garantiert jeder versteht. Andererseits, damit sich auch reflexhaft sofort jeder fürchterlich darüber aufregen kann.

Dazu kommt, dass jeder Trend praktischerweise gleich einen Gegenentwurf provoziert und mitliefert. Das Gegenstück zum Vanilla Girl ist das „Weird Girl“. Das haut style-technisch ordentlich auf die Pauke, puristische Zurückhaltung wird in ihrem Styling definitiv nicht großgeschrieben. Cool ist, was möglichst seltsam aussieht – und dadurch als unangepasst charakterisiert wird. Für diesen Look werden Muster, Farben und Materialien wild bis wüst durcheinander gemixt. So kann sich jeder aussuchen, welche Mode-Erscheinung einem am ehesten liegt. Brav oder böse. Es gilt: Was euch gefällt.

Alexander Kern

Über Alexander Kern

Redakteur KURIER Freizeit. Geboren in Wien, war Chefredakteur verschiedener Magazine, Gründer einer PR- und Medienagentur und stand im Gründungsteam des Seitenblicke Magazins des Red Bull Media House. 12 Jahre Chefreporter bzw. Ressortleiter Entertainment. Schreibt über Kultur, Gesellschaft, Stil und mehr. Interviews vom Oscar-Preisträger bis zum Supermodel, von Quentin Tarantino über Woody Allen bis Jennifer Lopez und Leonardo DiCaprio. Reportagen vom Filmfestival Cannes bis zur Fashionweek Berlin. Mag Nouvelle Vague-Filme und Haselnusseis.

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