Kritik: Das Leben ist halt nicht gemütlich

Ein Riesenerfolg im Akademietheater: Die Uraufführung von „Adern“ der Tiroler Autorin Lisa Wentz (mit richtiger Handlung!)

Spricht man mit Theatermachern darüber, dass die Besucher heute oft nur noch die Wahl haben  zwischen bemühten Klassiker-Aktualisierungen mit erhöhtem Aufkommen von SS-Uniformen, vor Anstrengung keuchenden Roman-Dramatisierungen oder postdramatischen Textflächen, in denen es um irgendwie eh alles und nichts geht, das aber mindestens vier Stunden lang – dann bekommt man zu hören: Es schreibt halt niemand mehr richtige Stücke.

Was für ein Unsinn.

Die 27-jährige Tiroler Autorin Lisa Wentz hat mit „Adern“ ein richtiges Theaterstück geschrieben, mit all den altmodischen Dingen,  die vom Feuilleton gefeierte Dramatiker heute für überflüssigen Luxus halten: Also eine nachvollziehbare Handlung, sorgfältig entworfene Figuren, packende Konflikte. Und trotzdem wirkt dieses Stück, das völlig zu Recht  den renommierten Retzhofer Dramapreis gewonnen hat, keine Sekunde altmodisch.

Und so wurde die von David Bösch hoch sensibel inszenierte Uraufführung im Akademietheater zur Erinnerung daran, wie faszinierend Theater heute sein kann, obwohl Shakespeare, Schiller, Büchner, Kleist, Tschechow und Bernhard skandalöserweise immer noch tot sind.

 

Karge große Liebe

Die Geschichte ist im Kern denkbar einfach: Ein verwitweter Mann und eine ledige Mutter lernen einander wegen einer Annonce auf einem Bahnhof in Tirol kennen – und beschließen, das Leben miteinander zu verbringen. Es entsteht eine karge, aber große Liebesgeschichte.

Über diese wirft der Berg bedrohlich seine Schatten: Was hat sich in den Stollen ereignet, in dem Zwangsarbeiter schuften mussten, weswegen einer nur schweigt und einer nur säuft?

Das Großartige an Wentz’ Text: Das wirklich Wichtige bleibt ungesagt – dennoch spürt man es stets und entwirft sich im Kopf eigene Geschichten dazu: Was ist mit der verbitterten Schwester, deren Traum einer Familie unerfüllt blieb? Was mit dem Kindsvater, einem verschwundenen Besatzungssoldaten? Warum starb die Mutter der Kinder plötzlich an Keuchhusten? Wie geht  die Geschichte der lebenshungrigen Tochter weiter?

Die Stille erzählt

Lisa Wentz wird bereits mit Ödön von Horváth verglichen, und das nicht einmal zu Unrecht: Auch bei ihr sagen die Figuren weniger, wenn sie sprechen – die Stille zwischen den Sätzen erzählt mehr. „Adern“ könnte aber auch das Drehbuch zu einem modernen Heimatfilm sein, in der Regie von Michael Haneke oder David Schalko.

Sarah Viktoria Frick und Markus Hering spielen atemberaubend gut das Paar im Zentrum der Geschichte: Wie sie mit ungeschickten kleinen Gesten – der Ellenbogenstoß – versuchen, Zärtlichkeit auszudrücken, berührt zutiefst.

Daniel Jesch gibt sparsam und treffend den von seinem Gewissen und dem Alkohol geplagten Bergwerksarbeiter. Andrea Wenzl braucht nur ganz wenige Sätze und Gesten, um die frustrierte Schwester mit Charakter auszustatten. Und Elisa Plüss begeistert als Tochter mit Kaiserschmarrn-Phobie ebenso wie als sexy Geistwesen, das dem Berg Stimme und Gestalt gibt.

Die Inszenierung von David Bösch verzichtet auf billige Effekte, ist hoch poetisch und sehr klar.

Am Ende bekommt jemand quälenden Husten, die Zeit bekommt Grenzen, und man vergisst nicht: „Das ist aber nicht gemütlich.“ – „Nein. Aber so ist das Leben halt.“ Großer Jubel.

Guido Tartarotti

Über Guido Tartarotti

Guido Tartarotti wurde, ohne vorher um Erlaubnis gefragt worden zu sein, am 23. Mai 1968 zur Mödlinger Welt gebracht. Seine Eltern sind Lehrer, und das prägte ihn: Im anerzogenen Wunsch, stets korrekt und dialektfrei zu sprechen, glaubte er bis in die Pubertät, Vösendorf heiße eigentlich Felsendorf. Das Gymnasium Perchtoldsdorf, wo es damals u. a. eine strenge Einbahnregelung für die Stiegenhäuser gab, verzichtete nach einigen Verhaltensoriginalitäten seinerseits nach der fünften Klasse auf seine weitere Mitarbeit. Also maturierte er in der AHS Mödling-Keimgasse. 1990 begann er in der KURIER-Chronikredaktion. 1994 wurde er Leiter der Medienredaktion, ein Jahr darauf auch der Kulturredaktion. Beide Positionen legte er 2004 zurück, um wieder mehr Zeit zum Schreiben zu haben.

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