Knietief im Blut: Der Hype um Jeffrey Dahmer und True Crime
True Crime. Die ekelerregende Geschichte des Serienmörders Jeffrey Dahmer beschert Netflix neue Rekorde. Echtes Verbrechen fasziniert. Und das Angebot an Verfilmungen ist riesig
Es sind gute Wochen für Netflix. Der US-Konzern hat im dritten Quartal dank erfolgreicher Serien zum Wachstum zurückgefunden: Im Vierteljahr bis Ende September verbuchte das Unternehmen unterm Strich 2,4 Millionen neue Bezahlabos, nachdem es zuvor unter dem steigenden Konkurrenzdruck gelitten hatte. Die Aktien schossen am Donnerstag um mehr als 13 Prozent hoch. Mit verantwortlich dafür ist das absolute Grauen: Die True Crime-Serie Dahmer – Monster: Die Geschichte von Jeffrey Dahmer, die nach „Stranger Things“ die zweitmeist gestreamte englischsprachige Serie des Dienstes darstellt – binnen drei Wochen kam die an ein wahres Verbrechen (also „True Crime“) angelehnte Produktion in Rufweite der 2016 gestarteten Produktion: 701,37 Mio. Stunden wurde „Dahmer“ gestreamt. Staffel vier von „Stranger Things“ kam im selben Zeitraum auf 1,35 Mrd. Stunden.
Jeffrey Dahmer zerstückelte von 1978 bis 1991 Jugendliche und junge Männer und verging sich an den Leichen. Dass Netflix daraus einen Serienknaller bastelte, ohne den Angehörigen etwas zu sagen, führte zu berechtigter und anhaltender Kritik. Es tat dem Hype aber keinen Abbruch, wie sich zeigt.
Von Dänemark bis Korea
Es ist durchaus kein rein amerikanisches Phänomen: Der dänische Sender TV2 etwa hat aus dem Fall der in einem U-Boot ermordeten Journalistin Kim Wall eine Miniserie gemacht, die auf TVNow abrufbar ist: The Investigation – Der Mord an Kim Wall dreht sich um die verstörende Geschichte eines dänischen Erfinders, der die Reporterin Wall auf sein selbst gebautes U-Boot für eine Story einlädt und sie dort ermordet. Der Fall hielt Dänemark über Jahre in Atem, auch weil sich der Beweis des Mordes so schwierig gestaltete. Bemerkenswert: Der Täter wird hier nicht als Hauptfigur dargestellt, sondern kommt nur indirekt vor.
Auch aus Südkorea kommt ein magenverdrehendes True-Crime-Format: Der Regenmantel-Killer – Mörderjagd in Korea erzählt die wahre Geschichte von Yoo Young-chul, der 2003 und 2004 Prostituierte und reiche Familien (in deren Zuhause) ermordet hat. Zudem aß er Leichenteile. Der Mann wurde wegen 20-fachen Mordes zum Tode verurteilt. Wer sich für diese Story interessiert, braucht ebenfalls Netflix.
Lerneffekte
Oft sehen sich True-Crime-Formate wie „Dahmer“ der Kritik ausgesetzt, dass sie nur niedere Instinkte bedienen würden – zu lernen sei aus den fürchterlichen Verbrechen nur wenig. Dass man aus Schaden klug werden kann, demonstriert hingegen die Doku Gladbeck – Das Geiseldrama, (Netflix) eine Rekonstruktion einer völlig aus den Bahnen geratenen Medienhatz auf deutsche Geiselnehmer im Jahr 1988. Journalist Volker Heise hat Originalaufnahmen zusammengetragen und ein bedrückendes Stück daraus montiert: Zwei Männer hatten im Sommer 1988 eine Bank überfallen, was sich zu einer Geiselnahme auswuchs. Nicht nur die Polizei patzte, auch die vor der Tür wartenden Medienvertreter gaben ein aus heutiger Sicht ein irrwitziges Bild ab: Als die Geiselnehmer in ihrem Fluchtfahrzeug Halt machten, drängten sich die Reporter um sie, befragten die später getötete Geisel Silke Bischoff, verhandelten mit und waren vor allem eins: Völlig angefixt von der super Story. Nach 54 Stunden wurden die Geiselnehmer überwältigt, drei Menschen starben. Hier ließ sich viel über Medienethik lernen. Und Deutschland verbot wegen der Grenzüberschreitungen fortan Interviews mit aktiven Geiselnehmern .
Herausragendes True-Crime bietet die Doku Don’t F**k with Cats – Die Jagd nach einem Internet-Killer, bei der eine internationale Online-Community Jagd auf einen Unbekannten macht, der Katzen misshandelt und davon Videos postet. Die Gewalt des Unbekannten steigert sich, bis schließlich ein Mensch dran glauben muss. Wahrscheinlich die heutigste aller Erzählungen.
Audio-Crime: Podcasts zu echten Verbrechen
Die Geschichte wahrer Fälle kann durchaus Konsequenzen haben: Der Fall von Adnan Syed, der mehr als 20 Jahre wegen des Vorwurfs der Ermordung seiner Ex-Freundin in Baltimore im Gefängnis saß, ist neu aufgerollt worden. Und Syed ging frei – das Urteil wurde aufgehoben. Verantwortlich für diese außergewöhnliche Wendung ist der US-Podcast Serial, der die vielen Widersprüche in dem Fall umfassend aufzeigte und sich dabei eine internationale Fan-Community aufbaute. Von 2015 bis 2019 liefen die Folgen zu dem Fall. Und sie fanden ein gutes Ende.
Das Aushängeschild der deutschen True-Crimes-Podcast-Szene ist wohl Zeit Verbrechen: Nicht nur, weil er hochrangig besetzt ist – hier sprechen die stellvertretende Zeit-Chefredakteurin Sabine Rückert und Wissenschaftschef Andreas Sentker, sondern auch wegen der umfassenden Fallhistorie, die das Format mittlerweile umfasst.
In Österreich hat sich das KURIER-Format Dunkle Spuren auf eine besondere Form der Kriminalberichterstattung spezialisiert: Hier werden ungeklärte Verbrechen in neuem Licht dargestellt – mittlerweile schon in der zehnten Staffel.
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