Jacqueline Kornmüller

Regisseurin Jacqueline Kornmüller: "Moral ist kein guter Begriff"

Erfolgsregisseurin Jacqueline Kornmüller bringt einen schweren, packend aktuellen Stoff auf die Bühne. Und hat ein federleichtes, frühlingshaftes Buch über die Beziehung einer Frau zu ihrem Haus geschrieben.

Sie war eine der gefeiertsten Regisseurinnen Deutschlands, führte über zehn Jahre lang am Hamburger Schauspielhaus und dem Stuttgarter Staatstheater Regie. 2010 kam Jacqueline Kornmüller nach Wien – und verfolgte hier gänzlich neue Theaterkonzepte. „Ganymed“ heißt eine Reihe von assoziativen Stücken, die sie  im Kunsthistorischen Museum inszenierte. Und damit sowohl Publikum als auch Kritiker begeisterte. Nun hat sie für den Antikriegsroman „Das große Heft“ der ungarisch-schweizerischen Schriftstellerin Ágota Kristóf eine Bühnenfassung geschrieben, die am 18. April im Odeon-Theater Premiere feiern wird.  Gleichzeitig hat sie ein wunderbares Buch herausgebracht, das Frühlingsgefühle weckt. it der "freizeit" traf sie sich im Wiener Odeon zum Interview.

Ihr „Ganymed“-Projekt wurde  inzwischen von Ihnen  auch international aufgeführt. Wie erklären Sie sich diesen Erfolg?
Indem wir das Theater praktisch aufgelöst haben und freie Räume schaffen, sind die Schauspieler ganz, ganz nah am Zuschauer dran. Das hat einen großen Reiz, und es gibt auch eine große Sehnsucht nach dieser Intimität, glaube ich. Dass man eben nicht auf Distanz gerückt wird und vom dritten  Rang jemand zuschaut, der schreien muss, damit ich ihn überhaupt verstehe. Das war auch eine Entwicklung, wir haben mit nur wenigen Zuschauern angefangen und hatten im vergangenen Jahr bei Ganymed Bridge 15.000.
Das Kunsthistorische Museum ist ja nicht die einzige ungewöhnliche Bühne, die Sie sich für Ihre Inszenierungen ausgesucht haben. Sie haben Stücke ins Parlament, ins Klangforum, in die Eremitage in St. Petersburg und sogar ins Jörgerbad in Hernals gebracht. Da stellt sich die Frage: Wie viel Theater braucht das Theater?
(lacht) Ach, das kann mal mehr, mal weniger sein. Ich stehe da auf keiner „Seite“. Ich bewege mich aktuell wieder mehr aufs Theater zu. Aber ich versuche dabei, diese Intimität, die wir mit Ganymed gefunden haben, auch auf die Bühne zu holen, die Distanz zu verringern.
Dann lassen Sie uns über Ihre aktuelle Inszenierung sprechen, mit der Sie zurück ins Theater gehen. Sie bringen mit  „Das große Heft“ eine ebenso intensive wie erschütternde Geschichte über das Leben zweier Kinder im Krieg auf die Bühne. 
Das Stück ist deswegen so aktuell, weil wir uns momentan sehr intensiv mit dem Krieg beschäftigen müssen. Der Krieg rückt uns irgendwie näher, jeden Tag. Und sehen wir einmal auf die Ukraine: Diese Bombardierungen, die Kämpfe, die Winter ohne Schutz und Wärme. Da leben ja wirklich auch Kinder! Und jetzt der Kampf im Nahen Osten, wo wir jeden Tag sehen, was mit den Kindern passiert. Sie verhungern, werden Opfer von Gewalt, es ist eine absolute Katastrophe. Und genau in dieser Katastrophe befinden sich die Zwillinge in Kristófs Buch.
Die beiden Kinder gehen allerdings einen sehr dunklen Weg, um zu überleben. Die Art, wie sie durch den Krieg kommen ist erschreckend ...
Und es ist nicht anders als bei vielen Kindern in den aktuellen Kriegssituationen. In diesen beiden furchtbaren Kriegsjahren. Wenn man ohne Eltern, ohne Schutz und Unterstützung ist, muss man schauen, wie man überlebt. Was die beiden Kinder in „Das große Heft“ entwickeln sind einfache Überlebensstrategien. Wir sehen, wie diese Zwei dabei zu Mördern werden. Aber das ist ja nicht, was sie sich wünschen, wovon sie vor dem Krieg geträumt haben. „Was ist das, was in uns lügt, mordet, stiehlt?“, schrieb Georg Büchner. Und in Kristófs Stück sehen wir zu, wie zwei Menschen sich zu dem hin entwickeln, in diese grauenvolle Wesensart eines Mörders. Aber das zeigt uns auch, zu welchen Bestien wir uns entwickeln, wenn wir solche Kriege aufgezwungen bekommen.
Wo ist die Moral?
Ich würde sagen, Moral ist kein guter Begriff in dem Zusammenhang. Die Frage würde ich nicht stellen. Aber wenn man tief genug schürft, spürt man, dass es eigentlich auch hier nur um die Liebe geht. Moral ist an sich ein schwieriger Begriff, der kommt auch aus einem anderen Jahrhundert. Wir sollten eher von Ethik sprechen.
Weil sie von einem anderen Jahrhundert sprechen: Ágota Kristóf  hat das Buch bereits 1987 geschrieben ...
Ja, und inspiriert ist es von ihrer eigenen Geschichte. Zur Zeit des Zweiten Weltkriegs ging sie in Ungarn in die Volksschule, dann erlebte sie 1956 als junge Mutter die Niederschlagung des Ungarischen Volksaufstands durch die sowjetische Besatzungsmacht, sie ist dann mit ihrem Mann und der kleinen Tochter nach Frankreich geflüchtet. Und es ist erschreckend, wie aktuell alles ist, worüber sie schreibt ... Ich hab den Roman gelesen, als er herausgekommen ist, und mir sofort gedacht, dass ich ihn unbedingt auf eine Bühne bringen will, obwohl diese Zeit rückblickend eine sehr friedliche war.
Das Timing, mit dem Sie Ihre Dramatisierung jetzt auf die Bühne bringen, ist erschreckend am Punkt. Darauf haben Sie aber nicht gewartet?
Nein, absolut nicht. Das größte Hindernis war erstaunlicherweise lange Zeit, dass ich nach Schauspieler-Zwillingen gesucht habe, die die Rollen der beiden Jungs übernehmen können. Das ging über Jahre, und es war mir wirklich wichtig, dass es Zwillinge sind, nicht nur Geschwister oder Typen, die sich ein bisschen ähnlich sehen, weil bei Kristóf ja immer die Möglichkeit mitschwingt, dass es eigentlich nur eine Person ist. Dann habe ich die wunderbaren Zwillinge Mercedes und Miriam Vargas vom Serapionstheater kennen gelernt und es konnte endlich losgehen ...
Miriam M. Mercedes M. Vargas mit Regisseurin Kornmüller

Miriam M. Vargas (li.) und Mercedes M. Vargas (re.) spielen die Hauptrollen in Kornmüllers neuem Stück. Dank ihnen konnte die Regisseurin „endlich loslegen“

©Kurier/Tobias Steinmaurer
Sie sind selbst eine renommierte Schauspielerin, spielten unter anderem die Hauptrolle in Dimiter Gotscheffs gefeierter Inszenierung von Tschechows „Möwe“ in Köln. Was hat Sie dazu bewogen, relativ bald die Seiten zu wechseln? Von der Bühne auf den Regiestuhl?
Wie gesagt, der Reiz, etwas selbst auf die Bühne zu bringen, war schon sehr früh da. Und so habe ich tatsächlich auch recht bald, noch in den frühen  90ern, angefangen, selbst zu inszenieren. Abgesehen davon ist Schauspiel für Frauen leider noch immer ein zeitlich recht streng limitierter Beruf. Schon als Schülerin hab ich von Regisseuren und Intendanten öfter mal Bemerkungen wie „Bei der ist der Lack ab“, gehört, wenn sie über Kolleginnen Ende 30 gesprochen haben. Was ist das denn für eine Sprache?! Es ist traurig und beschämend, wie Schauspielerinnen ab einem gewissen Alter darum kämpfen müssen, überhaupt noch besetzt zu werden.
Bei all Ihren Aktivitäten fanden Sie auch noch Zeit, ein wirklich wunderbares frühlingshaftes Buch zu schreiben: „Das Haus verlassen“. Darin versuchen Sie, Ihr altes Sommerhaus in der Steiermark zu verkaufen. Dabei entwickelt es einen eigenen, auch eigenwilligen Charakter ...
Ja, es hatte lange auf mich gewartet, bevor ich eingezogen bin, war auch ziemlich marode. Aber es war Liebe auf den ersten Blick.
„Das Haus verlassen“

„Das Haus verlassen“

Von Jacqueline Kornmüller, Illustrationen von Kat Menschik. Eine poetische Geschichte über ein altes Feldsteinhaus, Galiani-Berlin Verlag, 
96 Seiten, 22 €

Und dann die Trennung! War es nicht ein bisschen enttäuscht von Ihnen?
Na ja, es ist aufgeschlossen. Es hat diesen Prozess halt mit mir mitgemacht.
Dabei muss man sich beim Lesen fast selbst in dieses Haus verlieben, all seine Winkel und Eigenheiten, den Keller, den Garten ... Da hofft man förmlich, dass diese Liebe noch eine Chance bekommt. Aber das wollen wir hier nicht verraten. Vielen Dank für das Gespräch!
Andreas Bovelino

Über Andreas Bovelino

Redakteur bei KURIER freizeit. Ex-Musiker, spielte in der Steinzeit des Radios das erste Unplugged-Set im FM4-Studio. Der Szene noch immer sehr verbunden. Versucht musikalisches Schubladendenken zu vermeiden, ist an Klassik ebenso interessiert wie an Dance, Hip-Hop, Rock oder Pop. Sonst: Texte aller Art, von philosophischen Farbbetrachtungen bis zu Sozialreportagen aus dem Vorstadt-Beisl. Hat nun, ach! Philosophie, Juristerei und Theaterwissenschaft und leider auch Anglistik durchaus studiert. Dazu noch Vorgeschichte und Hethitologie, ist also auch immer auf der Suche einer archäologischen Sensation. Unter anderem.

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