Von wegen Schundliteratur: Wie Graphic Novels den Buchmarkt aufmischen

Zwischen Nibelungen und Sozialdrama: Der Anteil der Graphic Novels am Buchmarkt hat sich verdoppelt. Wie begann der Trend? Welche Werke gilt es heute zu lesen?

Knuff! Boing! Zack! Lange haftete Comics der Ruf eines kulturell höchst minderwertigen Lesevergnügens an. Als Krixikraxi verschrien, wurde die Lektüre von Eltern gern verboten, unter Klassenkollegen dennoch heftig getauscht, und mit der Taschenlampe nachts unter der Bettdecke gelesen – oder während langweiliger Unterrichtsstunden unter der Schulbank. Diese Zeiten sind vorbei.

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Als aufwendig gezeichnete und komplex erzählte Graphic Novels sind die bunten Bilderwelten längst als etablierte Literaturform in der Erwachsenenwelt angekommen. "Graphic Novels sind tiefgehende, fesselnde und mitreißende Dramen, die soziale Welten porträtieren und Schicksale beleuchten, mit denen das Publikum sich identifizieren kann“, weiß Malte Steinhausen. Der Deutsche gründete 2010 die Bilderbox Vienna. Und verkauft seitdem anspruchsvolle Bände, die vom Feuilleton besprochen und dennoch viel gelesen werden. Sehr viel.

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Wachsender Markt

In den vergangenen fünf Jahren hat sich der Anteil am deutschsprachigen Buchmarkt laut Branchen-Angaben verdoppelt. Das ist keine Angelegenheit von reinen Comicverlagen wie Splitter, Reprodukt oder Editon Moderne mehr.

Auch renommierte Literaturverlage wie Suhrkamp oder S. Fischer mischen mit. Im vergangenen Jahr legte die Comic-Branche auf mehr als 260 Millionen Euro Umsatz zu – und verbuchte damit eine Rekordmarke.

Bestseller: Richard Wagners Opernzyklus „Der Ring des Nibelungen“ als knallige Graphic Novel, von US-Meister P. Craig Russell

©Cross Cult Verlag

Kafka & Klassiker als Comic

In der Bestseller-Liste auf Platz zwei ist derzeit etwa "Der Ring des Nibelungen“ zu finden. Knallbunt und martialisch hat der anerkannte Zeichner P. Craig Russell das Opernepos von Richard Wagner adaptiert. Der Kampf ums Rheingold auf 450 Seiten belegt, wie gut die Adaptionen literarischer Klassiker als Comic ankommen. Anspruchsvoll in Szene gesetzt gibt es Franz Kafkas "Das Urteil“ etwa genauso zu lesen, wie Stefan Zweigs "Schachnovelle“, Homers "Die Odyssee“ oder Hermann Melvilles "Moby Dick“.

Düster: Franz Kafkas Klassiker „Das Urteil“ von Moritz Stetter, expressiv inszeniert 

©Moritz Stetter/Knesebeck Verlag

Wem der Sinn nach Goethe steht, kann sogar aus unterschiedlichen Versionen wählen. Den Tanz um den Teufelspakt gibt es einerseits als düster-tragisches Werk, gezeichnet von Alexander Pavlenko, andererseits als vergnügliche Version mit Faust als taxifahrendem Student in Berlin, vom deutschen Künstler Flix. Was die Welt im Innersten zusammenhält und was des Pudels Kern ist, bleibt jedem armen, klugen Tor bei beiden nicht vorenthalten.

Wie alles anfing

Als Erfinder der Graphic Novel gilt Will Eisner, dessen Verdienste jüngst eine Ausstellung im Cartoonmuseum Basel würdigte. Im Vorwort von "Ein Vertrag mit Gott“ führte er 1978 erstmals die neue Genrebezeichnung ein – Erzählungen von jüdischen Migranten in der New Yorker Bronx, Mietshausgeschichten über Familien, jüdische Identität, Liebe, vom harten, verregneten Leben in der Megacity.

Mit dem Stil bunter Superman-Comics hatte Eisners Existenzialismus so gar nichts zu tun. Eine Revolution. Oder "fast ein körperlicher Schock“, wie Frank Miller feststellte, später mit dem so ultrabrutalen wie erfolgreich verfilmten "Sin City“ selbst Großmeister der Graphic Novel.

Legendäres Meisterwerk

Als berühmtester und anerkanntester Comicautor gilt heute Art Spiegelman. Sein "Maus“ ist ein Meisterwerk der grafischen Literatur über den Holocaust und Antisemitismus, in dem er die Erlebnisse seines jüdischen Vaters im Nationalsozialismus verarbeitete. Deutsche werden als Katzen dargestellt, Juden als Mäuse.

Superstar: Art Spiegelman, Schöpfer des legendären Holocaust-Comics „Maus“ 

©APA/AFP/BERTRAND LANGLOIS

Dass das mit dem Pulitzer-Preis prämierte Buch 2022 in Tennessee wegen "verstörenden Inhalten“ von einer Schule verboten wurde, ist natürlich ein schlechter Witz. Ebenso wie der jüngste Gipfel amerikanischer Scheinheiligkeit: In Florida ließen die "Moms of Liberty“ die preisgekrönte Illustration von "Das Tagebuch der Anne Frank“ aus der Schulbibliothek entfernen. Absurder Grund: es verharmlose den Holocaust.

Verboten: „Das Tagebuch der Anne Frank“, von Ari Folman, David Polonsky

©Anne Frank Fonds Basel

Was man lesen muss

Spiegelmans "Maus“ ist ein Longseller, ebenso wie "Persepolis“ von Marjane Satrapi, über ein kleines Mädchen inmitten der islamischen Revolution 1979 (als Film für den Oscar nominiert). Eine "Ausnahmeerscheinung“, so Comicshop-Besitzer Steinhausen. Das Buch zeigt, wie gut es der Gattung gelingt, oft vernachlässigte Lebenswelten nachdrücklich im Denken zu verankern.

Neuere Novels wie "Ducks“ von Kate Beaton porträtieren etwa den harten Kampf einer Frau unter Ölarbeitern, allesamt Männer: Raubbau an der Natur, Alkoholismus, Sexismus, hier ist alles dabei, und die Autorin hat es selbst erlebt. Das Werk wird sogar von Barack Obama empfohlen.

Tragikomisch: „Trubel mit Ted“ von Emilie Gleason thematisiert den Alltag eines Autisten – farbenfroh und temporeich

©Cross Cult

In "Trubel mit Ted“ ließ sich Emilie Gleason von der Realität ihres Bruders inspirieren, bei dem das Asperger-Syndrom diagnostiziert wurde. Das erfrischend bunte "Naphtalin“ der Feministin Sole Otero wiederum erzählt von italienischen Einwanderern in Argentinien. Und "Herzschlag“ von Karen Hertfelder ist ein Beispiel für eine große Reihe an Büchern, die LGBT-Themen aufgreifen und darüber mit viel Herzblut berichten.

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In all ihren leuchtenden Facetten sind sie die Nachfolger berühmter Namen wie des Underground-Heros Robert Crumb, des Fantasten Moebius alias Jean Giraud, von Hugo Pratt mit seinem maritimen Abenteurer "Corto Maltese“ oder den schmutzigen Storys von Matthias Schultheiss ("Kaputt in der City“).

Lesetipp: „Shangri-La“, von Mathieu Bablet - Leben nach der Apokalypse 

©Splitter Verlag

Und sie müssen längst nicht mehr so bildgewaltig-brachial daherkommen, jedes Panel einem opulenten Gemälde gleichen, wie es bis in die Neunzigerjahre vorherrschte. Etwas, das etwa auch die Österreicherin Ulli Lust zum Meisterwerk "Heute ist der letzte Tag vom Rest deines Lebens“ über ihre Kindheit in Wien animierte.

"Viele Storys mögen einfach gezeichnet sein, mit Bleistift und rudimentär ausgearbeitet“, weiß Malte Steinhausen, "aber die Erzählmaterie ist tiefgreifend.“ Das macht manches auch ideal für den Unterricht. Und bringt Jüngere dazu, nicht nur ins Handy zu starren. Wenngleich es auch Comics schwer fällt, damit zu konkurrieren. Die meisten seiner Kunden, so Steinhausen, sind 25 und älter. Alle, die jünger sind, sind auf TikTok.

Alexander Kern

Über Alexander Kern

Redakteur KURIER Freizeit. Geboren in Wien, war Chefredakteur verschiedener Magazine, Gründer einer PR- und Medienagentur und stand im Gründungsteam des Seitenblicke Magazins des Red Bull Media House. 12 Jahre Chefreporter bzw. Ressortleiter Entertainment. Schreibt über Kultur, Gesellschaft, Stil und mehr. Interviews vom Oscar-Preisträger bis zum Supermodel, von Quentin Tarantino über Woody Allen bis Jennifer Lopez und Leonardo DiCaprio. Reportagen vom Filmfestival Cannes bis zur Fashionweek Berlin. Mag Nouvelle Vague-Filme und Haselnusseis.

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