Deprimiert: Jussi Vatanen (li.) und Martti Suosalo im Comeback-Film von Aki Kaurismäki „Fallen Leaves“ in Cannes

Filmfestival Cannes: Zwischen Nostalgie und Netflix

Stirbt das Kino? Die neuen Filme von Nanni Moretti und Aki Kaurismäki laufen im Wettbewerb und finden Antworten

Ist das Kino eine Sprache, die verloren geht? Eine Kunstform, die ausstirbt?

Vor genau vierzig Jahren wurde diese Frage von Wim Wenders in Cannes gestellt. Der deutsche Regisseur lud eine Gruppe von 16 Filmemachern und (zwei) Filmemacherinnen ein, die 1982 das Filmfestival besuchten. In „Room 666“ des Hotels Martinez stellte ihnen diese Überlebensfrage und ließ sie ihre Antworten in die Kamera sprechen. Von Jean-Luc Godard über Steven Spielberg bis zu Rainer Werner Fassbinder – der kaum einen Monat später starb – machten sich die bedeutendsten Vertreter des Weltkinos Sorgen um die Zukunft ihrer Branche. Das Heimkino dank Fernsehen und Video galt den einen als große Bedrohung, während die anderen fest an die Zukunft des Kinos glaubten.

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Wim Wenders im Remake seiner Films "Room 666": "Room 999" von Lubna Playoust

©Festival de Cannes

Vierzig Jahre später stellte die französische Regisseurin Lubna Playoust die gleiche Frage einer neuen Generation von Filmschaffenden: In ihrem Doku-Debüt „Room 999“ versammelte sie während des Filmfestivals in Cannes von 2022 erneut eine Reihe von Regisseuren – und entscheidend mehr – Regisseurinnen in einem Hotelzimmer und stellte die Frage erneut. Wim Wenders ist gleich der Erste, der in einer düsteren Rede die Gefahr der digitalen Revolution heraufbeschwört und um das Schicksal des (verschwindenden) Kinos zittert. Andere sind weniger pessimistisch: David Cronenberg – im Alter von damals 79 Jahren der älteste Interviewpartner – blickt mit großer Zuversicht in die Zukunft. Die französische Palmengewinnerin Audrey Diwan („Das Ereignis“) beobachtet die kurze Aufmerksamkeitsspanne ihrer Kinder und fragt sich, ob traditionelles Kino überhaupt noch dem Rhythmus der jungen Generation entspricht? Ruben Östlund schließlich – zweifacher Palmengewinner („The Square“ und „Triangle of Sadness“) und Präsident der heurigen Preisjury – bedauert den Einheitsbrei, den die globalen Streamingkonzerne per Algorithmus ihren Konsumierenden vorsetzt.

Mathieu Amalric und Nanni Moretti in "A Brighter Tomorrow"

©Festival de Cannes

Bedrohung

Die Macht der Streamingdienste (und ihre Bedrohung für den traditionellen Gang ins Kino) ist in Cannes permanentes Diskussionsthema. Die Apple Studios durften Martin Scorseses „Killers of the Flower Moon“ in Cannes mit der Verpflichtung präsentieren, den Film in den Kinos zu verleihen, ehe er auf Apple TV+ landet.

Das Ringen mit der Allmacht der Streamer schlägt sich aber auch in den Filmen nieder. Der italienische Neurosenregisseur Nanni Moretti spielt in seiner Komödie „A Brighter Tomorrow“ einen Filmemacher, dem gerade das Geld für sein neues Projekt ausgeht. Es kommt zu einer recht komischen Begegnung mit Vertretern von Netflix, die ihm Geld anbieten – wenn er so gut wie alles in seinem Film umschreibt. Umwerfende Begründung: „Wir verkaufen den Film in 190 Territorien. 190 Territorien!! 190 Territorien!!!“ Am Ende seines etwas enervierenden (Selbst-)porträts winkt Moretti in die Kamera: Ist es sein Abschied vom Kino? Oder doch nur ein Goodbye bis zum nächsten Mal?

Alma Pyösti und Jussi Vatanen in Aki Kaurismäkis "Fallen Leaves"

©Festival de Cannes

Zurückgekehrt nach längerer Abwesenheit ist jedenfalls der lakonische Kult-Finne Aki Kaurismäki. Schon bei seinem Gang über den roten Teppich erfreute er die Fotografen, indem er ihnen wahlweise die Kameras abnahm oder so nahe an sie heranrückte, dass er mit der Nase quasi die Linse berührte. Seine melancholisch-schweigsame Liebesgeschichte in beredten Primärfarben ruft ein ihm ureigenes Kino auf, wie er es in den 1980er-Jahren begonnen hat. In der tragikomischen Romanze „Fallen Leaves“ telefonieren die Menschen mit Wählscheibe und notieren Handy-Nummern auf Papierzettel (die sie prompt verlieren). Die von Wim Wenders beklagte digitale Revolution hat im Nostalgiekino von Aki Kaurismäki noch nicht Einzug gehalten.

Alexandra Seibel

Über Alexandra Seibel

Alexandra Seibel schreibt über Film, wenn sie nicht gerade im Kino sitzt.

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