Camille Henrot im Salzburger Kunstverein: Die Kunst, Kinder zu haben

Eine famose Einzelausstellung rund um die universelle Erfahrung der Menschwerdung.

Entzücken und Ekel, körperliche Nähe und das Bedürfnis, endlich einmal allein zu sein, höchste Freude und massive Erschöpfung: „Nichts konfrontiert einen so sehr mit Ambivalenz wie die Situation, auf ein kleines Kind aufzupassen“, findet Camille Henrot.

Die prominente französische Künstlerin, die nun im zentralen Saal des Salzburger Kunstvereins eine famose Einzelausstellung arrangiert hat, weiß auch um die Schwierigkeit, das Thema aufzuarbeiten: „Wenn die Kunst mit der Mutterschaft verbunden ist, verliert sie oft die Fähigkeit, mit anderen Dingen verbunden zu werden.“ Zahlreich sind die Beispiele, in denen sich männliche Künstler formalen Innovationen zuwenden konnten, während die Werke ihrer Kolleginnen stets an deren Biografie gekoppelt blieben.

Wirbelwind

Henrot hat das Kunststück, biografische und universelle Aspekte mit formalen Experimenten zu vereinen, dennoch zuwege gebracht. Sie wechselt dabei zwischen Malerei, Zeichnung und dem Medium der Bronzeplastik, das man heute eher mit Künstlern der Klassischen Moderne wie Picasso oder Brancusi als mit Zeitgenossinnen in Verbindung bringt.

Im Kunstverein sind alle Werke in einer Art Landschaft vereint, verbunden durch einen an die Wand gesprayten Horizont und aufgeklebte Papierstreifen, die es aussehen lassen, als bliese gerade ein Wirbelwind durch den Saal.

©ANDREW PHELPS

Auf drei Großformaten sind die Umrisse eines Embryos zu erkennen, locker hingesprüht in Wasserfarben. Sie müsse angesichts von Ultraschall-Aufnahmen aus dem Mutterleib oft an Rorschachtests denken, sagt Henrot – da wie dort entstehen „wässrige“ Bilder, die der Interpretation bedürfen, die Deutungen zulassen und eine nicht abgeschlossene Form zeigen.

Es sind nicht nur Fragen der künstlerischen Gestaltung, die sich aus einer solchen Offenheit ergeben – für Henrot geht es auch um universelle Erfahrungen der Menschwerdung. „Wie war es, als ich selbst ein Kind war? Wie war es, bevor ich Worte hatte? Mich interessiert auch der Umstand, dass Sprache als ein Gefühl im Mund beginnt. Wir können nicht sprechen, während wir noch saugen, Sprache braucht Zähne“.

In solchen Überlegungen wurzeln dann auch Bilder, die eine Mutterfigur mit Kind zeigen. In den expressiv gemalten Bildern scheinen es Mensch-Tier-Mischwesen zu sein, ihre Beziehung irgendwo zwischen Kampf und Konversation. In einer Bronzeplastik wiederholt Henrot dann wieder ein klassisches Madonnen-Schema, wobei auch hier Formen verschwimmen – die Brust mit dem Kindskopf, der Torso mit einem stilisierten „Y“.

©ANDREW PHELPS

„Mutterbilder sind heute so klischeebeladen, dass sie wie Buchstaben im Alphabet erscheinen“, sagt Henrot mit Blick auf „Mom-Influencer“ und ähnliche Phänomene. Vor-Bilder seien zwar einerseits hilfreich, weil sie Halt in wackligen Situationen bieten, übten aber auch massiven Anpassungsdruck aus.

In dieses System dringt Henrot mit ihren Bildern ein, macht die Spannungen von schön und hässlich sicht- und spürbar.

Die Erfahrung von Extremen aber hat letztlich nichts mit Milchpumpen und Mutterbrüsten zu tun. „Die Pandemie hat uns ja auch alle ein wenig mehr zu Müttern und zu kleinen Kindern gemacht.“

Michael Huber

Über Michael Huber

Michael Huber, 1976 in Klagenfurt geboren, ist seit 2009 Redakteur im Ressort Kultur & Medien mit den Themenschwerpunkten Bildende Kunst und Kulturpolitik. Er studierte Publizistik und Kunstgeschichte und kam 1998 als Volontär erstmals in die KURIER-Redaktion. 2001 stieg er in der Sonntags-Redaktion ein, wo er für die Beilage "kult" über Popmusik schrieb und das erste Kurier-Blog führte. Von 2006-2007 war Michael Huber Fulbright Student und Bollinger Fellow an der Columbia University Journalism School in New York City, wo er ein Programm mit Schwerpunkt Kulturjournalismus mit dem Titel „Master of Arts“ abschloss. Als freier Journalist veröffentlichte er Artikel u.a. bei ORF ON Kultur, in der Süddeutschen Zeitung, der Kunstzeitung und in den Magazinen FORMAT, the gap, TBA und BIORAMA.

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