Annie Leibovitz: "Wie eine Fahrt mit der Achterbahn"
Die Kunst, unverwechselbare Aufnahmen zu machen oder zu inszenieren. Annie Leibovitz praktiziert sie wie kaum ein anderer Fotograf. Ein Bildband zeigt nun alle ikonischen Fotografien der US-amerikanischen Legende der vergangenen 40 Jahre.
Sie kann es einfach nicht lassen. Mit 72 Jahren ist eigentlich jeder zu alt, um sich in eine riskante Situation zu bringen. Annie Leibovitz aber zauderte nicht lange, als die Vogue vor zwei Monaten einen spektakulären Termin an die weltberühmte Fotografin herantrug. Gefragt war das Porträt einer Heldin, eine Homestory bei der ukrainischen First Lady Olena Selenska.
Leibovitz lieferte, wie es immer ihre Art war. Spektakulär, eindrucksvoll, unverwechselbar. Mit Celebrity-Porträts der besonderen Art macht sich die 1949 geborene Tochter eines US-Air-Force-Offiziers und einer Tänzerin seit mehr als vier Jahrzehnten eine Namen. Und zwar einen in Lettern mindestens der Größe XXL.
John Lennon nackt und sich in embryonaler Haltung an Yoko Ono schmiegend. Demi Moore hochschwanger als Akt mit stolz der Kamera präsentierenden Babybauch. Die schwarze Komikerin Whoopi Goldberg in einer mit Milch gefüllten Badewanne. Fotos und Inszenierungen, die zum kollektiven Gedächtnis beinahe der ganze Welt zählen. Oft kopiert und trotzdem von kaum anderen Fotografen erreicht.
Auf Anregung von Verleger Benedikt Taschen hat Annie Leibovitz jetzt Fotografien aus ihrem 40-jährigen Schaffen in einem opulenten Bildband versammelt, von fotojournalistischen Arbeiten für das US-Musikmagazin Rolling Stone in den 1970er-Jahren bis zu den äußerst aufwendig produzierten Porträts für die Hochglanzmagazine Vanity Fair und Vogue. „Das Buch ist sehr persönlich und erzählt seine Geschichte mit den Mitteln der Popkultur“, erklärt sie dazu. „Es ist nicht chronologisch geordnet, und es ist keine Retrospektive. Es ist eher so etwas wie eine Achterbahnfahrt.“ Also, anschnallen!
Chronique scandaleuse
„XXL“, also schlicht „Überdimensional“, nennt sich der Bildband. Und das ist keinesfalls übertrieben. Graydon Carter, lange Jahre Herausgeber von Vanity Fair, vergleicht etwa die Porträts, die sie von Hollywood-Stars angefertigt hat, mit Romanen von Charles Dickens oder Jane Austen. Alles epochale Werke, konstatiert er im Vorwort, die Wichtiges über ihre Zeit aussagen.
Ihre Arbeiten haben zudem viel Witz. So finden sich zwischen all den Porträts von Stars und Celebritys immer auch stille Aufnahmen, etwa von Virginia Woolfs Schreibtisch oder von Elvis’ TV-Gerät. Freilich ist letzteres nicht irgendein Fernsehkastl, sondern eines, das der King of Rock ’n’ Roll in den lauten Siebzigerjahren eigenhändig mit einem Schuss aus der Pistole zum Schweigen gebracht hat.
„Annie Leibovitz, XXL“ ist ganz klar ein Coffeetable-Book. Eines zum Schauen, zum Staunen und selbstverständlich ebenso zum Herzeigen. „Mir gefiel die Idee, dass man das Buch zu Hause tagelang offen liegen lassen kann und irgendwann einfach ein paar Seiten umblättert“, gibt einem die Fotografin einen Rat zur richtigen Nutzung ihrer Geschichte in Bildern.
Dass eine Aufnahme von Queen Elizabeth II. aus dem Jahr 2007 ganz am Anfang des Buches steht, ist kein Zufall. Mit einem Schwarz-Weiß-Foto vom sich gerade per Hubschrauber vom Rasen des Weißen Hauses abhebenden Ex-Präsidenten Richard Nixon aus dem Jahr 1974 bildet es eine Klammer für die vergangenen vierzig Jahre. Leibovitz: „Diese beiden Fotos stehen für die politischen Mächte, die in den Jahren meiner Tätigkeit herrschten.“
Fotomodell für Annie L.
Die eine regierte ein langes Leben lang, der andere musste vorzeitig gehen. Aber wie war das eigentlich, wenn man ins Visier der berühmten Fotografin kam, wenn man für sie lange still stehen musste? Steve Martin war in den 1980er-Jahren einer der prominentesten Stand-up-Comedians. Im Vorwort des Fotobandes gibt er Auskunft, wie ein Shooting mit Annie Leibovitz ablief.
Der Komiker – und nebenbei bekannte Kunstsammler – war eben mit den Dreharbeiten zum romantischen Musical „Tanz in den Wolken“ fertig. Leibovitz wollte ihn für das Cover des Rolling Stone ablichten – damals und noch heute ist das wie ein Ritterschlag. Steve Martin: „Nun, jeder will auf einem Foto fantastisch ausschauen. Wir aber wollten ein Foto, an das man sich noch 100 Jahre später erinnern sollte.“
Gesagt, getan. Der Schauspieler sollte vor einer eben erstandenen großformatigen Malerei des abstrakten US-Künstlers Franz Kline einige Tanzschritte machen. Damit das fetziger wirkt, kam die Idee auf, seinen weißen Smoking mit dicken schwarzen Pinselstrichen zu verzieren.
Das Ergebnis machte großen Eindruck. Mit dem Unterschied, dass das Bild im Hintergrund im Wert stieg. Für den „veredelten“ Smoking interessierte sich aber keiner.
Für das Foto schon. Und für hunderte weitere Fotos von Annie Leibovitz. Dass die kreative Perfektionistin heute noch ran muss, hat übrigens mit ihrem Konkurs vor einigen Jahren zu tun. „Jemand, der so außergewöhnliche Bilder machen kann, ist nicht unbedingt ein guter Finanzmanager“, kommentierte Graydon Carter damals die Aufregung um ihren privaten Schuldenberg von 24 Mio. US-Dollar. Was sagt Annie Leibovitz dazu? In der Öffentlichkeit kein Wort. Die berühmteste Fotografin der Welt aber macht zum Glück nach wie vor das, was sie am besten kann: Bilderwelten komponieren.
Annie Leibovitz XXL
Annie Leibovitz, Steve Martin, Graydon Carter u. a.,
Hardcover im Schuber, 27,1 x 37,4 cm, 5,80 kg, 556 S., € 125
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