Mehr Mut zum Nein: Warum der Drang zu Gefallen unglücklich macht

Es anderen recht machen – danach streben Ja-Sager. Autorin Natalie Lue, warum der immerwährende Drang zu gefallen Leiden schafft.

Jahrelang stellte Natalie Lue die Wünsche anderer über ihre eigenen. Freiwillig. "Für mich war es das Natürlichste der Welt", erzählte die britische Autorin kürzlich der Washington Post. "Ich war stolz darauf, für alle da zu sein und immer mein Bestes zu geben." Sie hatte ihr Glück darin gefunden, allen zu gefallen. Scheinbar zumindest.

Eine private Krise – ausgelöst durch berufliche Überlastung, eine Trennung und eine Autoimmunerkrankung – zwang Natalie Lue schließlich 2005, den Blick nach innen zu richten: "Die meiste Zeit konnte ich mich selbst eigentlich gar nicht leiden. Aber ich hatte Angst davor, Nein zu sagen."

Angst vor Abwertung

Immer Ja, und bloß nie Nein sagen: Dieses Verhalten ist typisch für Menschen, die im englischsprachigen Raum als People Pleaser (auf Deutsch meist "Ja-Sager") bezeichnet werden. In ihrem Buch "The Joy of Saying No", das bald auch auf Deutsch erscheinen soll, setzt sich Natalie Lue mit dem verabsäumten Grenzensetzen auseinander.

"People Pleaser unterdrücken ihre eigenen Wünsche, Bedürfnisse, Gefühle und Meinungen, um Anerkennung, Lob und Zuneigung zu bekommen", weiß Psychologin Karin Flenreiss-Frankl. Die Angst, abgelehnt, abgewertet und ausgeschlossen zu werden sei omnipräsent. Das maximal angepasste Verhalten diene auch dazu, Kritik und Konfrontationen zu umschiffen.

Das hat seinen Preis. "People Pleaser sind permanent in Alarmbereitschaft", sagt Flenreiss-Frankl. "Ihre Gedanken kreisen immerzu darum, ob sie sich auch wirklich richtig verhalten." Entsprechend groß ist der Kraftakt, sich durchs soziale Leben zu navigieren. Der Konformismus birgt auch das Potenzial für Konflikte. "Bekommt man nicht die erwartete Anerkennung, kann das enorme Enttäuschung auslösen." Dieser Frust münde nicht selten in passiv-aggressive Vorwürfe an das Umfeld – oder beleidigten Rückzug.

Für Natalie Lue waren diese Gefühle eine Offenbarung. "Wer sich die magischen Worte ’Nach allem, was ich für dich getan habe’ sagen hört, erkennt, was Sache ist", ist die Britin heute überzeugt.

Selbstwertproblem

Ja-Sager streben danach, als gute Mitmenschen wahrgenommen zu werden – und nähren sich aus dieser Zuschreibung. "Darüber hinaus können sie oft nichts Nettes über sich sagen. Sie sehen sich nur als liebenswert, wenn sie sich für andere wünschenswert verhalten", sagt Flenreiss-Frankl. "Im Grunde leben sie ständig in einem Defizit. Das führt nicht zu einem glücklichen Leben."

Natalie Lue schreibt in ihrem Buch auch über gesellschaftliche Aspekte. So sei etwa von Frauen lange erwartet worden, sich mit ihren Bedürfnissen unterzuordnen. Angehörige von Minderheiten bekämen den Druck, wünschenswert zu agieren, um erwünscht zu sein, zu spüren.

Herantasten

Was braucht es, um sich nicht mehr als soziales Chamäleon zu identifizieren? "Es gilt die Überzeugung, dass man nur gut ist, wenn man alles für andere tut, zu verändern", so Flenreiss-Frankl. Der Grundstein fürs Ja-Sagen wird in der Kindheit gelegt. Manches, was damals eine notwendige Verhaltensweise war, fühlt sich im Erwachsenenalter nicht mehr stimmig oder gar problematisch an.

"Hat man diese Mechanismen erkannt, kann man schrittweise ausprobieren, was passiert, wenn man sich abgrenzt", sagt Flenreiss-Frankl. Ist mein Gegenüber wirklich enttäuscht? Passiert womöglich gar nichts? So können verinnerlichte Glaubenssätze aufgebrochen werden. Das bedeutet auch: Sich der Angst vor Zurückweisung stellen. Wer das tut, hat letztlich die Chance auf authentischere Beziehungen.

Eltern, die sich für Kinder eine Zukunft als selbstbestimmte Erwachsene wünschen, sollten ihnen früh eigenständige Entscheidungen ermöglichen, rät Flenreiss-Frankl. "Wenn Fehlverhalten mit Liebesentzug bestraft wird, ist das Gift." Wenn Kinder lernen, dass sie auch gemocht werden, wenn sie sich nicht so verhalten, wie andere es sich wünschen, wachsen sie zu dem heran, was unsere Gesellschaft so dringend braucht: Menschen mit Ecken und Kanten.

Marlene Patsalidis

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