Eine kulinarische "Traum"-Reise ins Jahr 2059: Gusto war gestern
Die freizeit feiert ihren 35. Geburtstag! Zu diesem Anlass blickt Gastro-Kritiker Florian Holzer in die Zukunft, genauer gesagt ins Jahr 2059.
Kürzlich hatte ich einen Traum, der weit in der Zukunft spielte, im Jahr 2059: Ich fand ein Mail in meinem Spam-Ordner, das auf den ersten Blick wie einer der üblichen lächerlichen Betrugsversuche aussah: Das MIT schrieb mir, mein Name sei bei einer zufallsbasierten Verlosung unter allen Autoren zum Thema Essen und Trinken dieser Welt gezogen worden, was mir die Möglichkeit eröffne, bei einem völlig neuen Zeitreise-Experiment teilzunehmen, das sich des Geschmacks- und Geruchsgedächtnisses des Menschen bedient.
Die Wissenschafter des MIT hätten diese neuronalen Codes nicht nur entschlüsselt, sondern sie durch Laser-Impulse auch umkehren, also in ein "Gedächtnis nach vorne" polen können. Natürlich rieten mir alle Freunde ab. Denn dass es sich um Betrug handle, sei ja wohl jedem Idioten klar. Allerdings kam am gleichen Tag ein Schreiben von der amerikanischen Botschaft, das mich zu einem Gespräch in die Boltzmanngasse einlud …
Das große Umdenken
Die "Traum"-Reise nach Cambridge verlief dann angenehm. Ans Verfahren kann ich mich zwar kaum erinnern, an das, was ich vom Jahr 2059 sah, aber sehr wohl: Auf der Erde leben zu diesem Zeitpunkt rund zehn Milliarden Menschen, der Klimawandel hat die semiariden Bereiche der Welt unbewohnbar gemacht, Hoffnungen auf Besiedelung des Mondes haben sich zerschlagen.
Wie wirkte sich das aufs Essen und Trinken aus? Fundamental. Natürliches, sauberes Wasser gilt nach fruchtbarem Boden mittlerweile als die wertvollste Ressource. Der Entscheidungsweg war zwar ein langwieriger, aber im Jahr 2059 kann sich eigentlich kaum noch wer vorstellen, wie noch 35 Jahre davor Massentierhaltung möglich war.
Nicht nur die Umweltbelastung, die sechs verheerenden Zoonose-Pandemien der 2030er- und 2040er-Jahre sowie der Verlust der Antibiotika-Wirksamkeit brachten – selbst populistische – Regierungen zum Umdenken. Vor allem der moralische Aspekt wirft bei den Menschen der späten 2050er-Jahre Fragen über die ethische Kompetenz der vorvorigen Generation auf. Die Herstellung von Protein ist längst großindustrielle Angelegenheit und in der Hand der chinesischen Regierung sowie des Mega-Konzerns Googazon.
Die Auswahl der alltäglichen Ernährung geschieht nicht mehr nach Gusto und Appetit, sondern wird von Algorithmen nach körperlich-medizinischen Bedürfnissen und psychologischen Stimmungsmustern erstellt. Und man muss sagen: Das funktioniert ganz schön gut. Klar gibt es "Widerstand". Die, die es sich leisten können und auf ein kleines Grundstück mit fruchtbarem Boden zurückgreifen können, bauen Obst und Gemüse selbst an, haben Hühner und Karpfenteiche, müssen diesen im Jahr 2059 unermesslichen Luxus aber schützen, oft auch mit Gewalt. Nein, Alkohol wird 2059 keine legale Droge mehr sein, geht den Menschen aufgrund des gestiegenen Gesundheitsbewusstseins aber nicht einmal in Österreich ab.
Übrigens genauso wenig wie "echte" Restaurants, die in 35 Jahren natürlich längst nicht mehr existieren, aber auch nicht mehr existieren müssen: Man trifft sich einfach im virtuellen Raum und programmiert, worauf immer man Lust hat, auf gegrillte Seezunge im Le Train bleu, auf ein Pastrami-Sandwich bei "Katz" in der East Houston Street oder auf ein Liptauerbrot mit G’spritztem und Blick auf die Weinberge von Wien … Alles keine so angenehmen Aussichten? Nun ja, vielleicht begegnen wir dem, was wir augenblicklich noch haben, einfach mit ein bisschen mehr Demut und versuchen es zu schützen.
Kommentare